Vom Hoffnungsträger zum Sanierungsfall?

Der chinesischen "Werkbank der Welt," die hierzulande gern als künftige Stütze der Weltkonjunktur imaginiert wird, droht der jähe wirtschaftliche Absturz

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Die Turbulenzen im chinesischen Finanzsektor wollen kein Ende finden. Am vergangenen Montag verzeichnete die Börse in Schanghai den höchsten Tagesverlust seit dem Krisenjahr 2009, bei dem der Shanghai Composite Index um 5,3 Prozent einbrach. Durch die massiven Verluste wurden an einem einzigen Handelstag die Kursgewinne der vergangenen sieben Monate revidiert.

Diesem chinesischen Börsenbeben ging in der Woche zuvor ein Lehman-Brothers-Moment voraus: Ähnlich der globalen Finanzmarktpanik von 2007, die durch die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers ausgelöst wurde, ging der chinesische Finanzmarkt in eine Art Schockstarre über. Die Banken weigerten sich, untereinander sich die ansonsten üblichen Kredite zu gewähren, wodurch die Zinsen im sogenannten Interbankenhandel rasch in die Höhe schnellten.

Keine weitere Liquidität in den überhitzten Finanzmarkt pumpen

Dieser Interbankenmarkt ist de facto zwischenzeitlich eingefroren, nachdem die Zinsen für kurzfristige Kredite in astronomische Höhen von bis zu 25 Prozent hochschossen.

Ausgelöst wurden diese Verwerfungen durch die Ankündigung der chinesischen Notenbank, künftig keine weitere Liquidität in den überhitzten Finanzmarkt zu pumpen. Die Geldhäuser sollen künftig ihre Liquidität besser handhaben, die Ausgaben rechtzeitig planen und ausreichende Geldmittel bereithalten hieß es in der offiziellen Stellungnahme der Notenbank. Die Banken, die weitere Geldspritzen erwartet haben, seien "auf dem falschen Fuß erwischt worden", kommentierte die Financial Times (FT).

Mittels eines Leitartikels in der staatsnahen Zeitung China Securities Journal habe die Führung in Peking gar einen fundamentalen Wechsel ihrer Geldpolitik signalisiert: "Wir können nicht mehr eine derartig schnelles Wachstum der Geldmenge wie in der Vergangenheit aufrechterhalten, um das Wirtschaftswachstum zu fördern", zitierte die FT aus dem Kommentar. Dies bedeute auch, dass "die staatlichen Autoritäten das Tempo des Geldmengenwachstums stärker kontrollieren müssen".

Unübersehbare Parallelen zu den Finanzmarktblasen in den USA und in Europa

Dieser Kommentar stellt somit auch ein Eingeständnis Pekings dar, dass der - langsam abflauende - Dauerboom in der "Volksrepublik" bereits zu einem großen Teil durch den permanent anschwellenden Finanzsektor befeuert wird. Die wuchernden Finanzmärkte treiben somit die Wirtschaft der "Werkbank der Welt" maßgeblich an - auch hier, in dieser klassischen Defizitkonjunktur, sind die Parallelen zu den Finanzmarktblasen in den USA und Teilen Europas unübersehbar.

Die Dynamik des Kreditwachstums im Reich der Mitte ist in der Tat längerfristig unhaltbar, da sie das Wirtschaftswachstum weit überflügelt. Das Volumen der Gesamtverschuldung des privaten Sektors Chinas (Unternehmen und Banken) ist von 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in 2008 auf rund 200 Prozent des BIP in diesem Jahr angeschwollen. Das Kreditwachstum beträgt inzwischen 20 Prozent.

Damit nahm das chinesische Kreditwachstum - das die Notenbank nun mit der Brechstange einzudämmen hofft - in einer Phase abkühlender Wirtschaftsdynamik Fahrt auf. Schon im vergangenen Jahr hat sich Chinas Staats- und Parteiführung von den zweistelligen Wachstumsraten der vergangenen Jahre verabschieden müssen (Stotternder Weltwirtschaftsmotor), doch werden die Prognosen inzwischen immer weiter nach unten korrigiert.

Auf hohes Wachstum angewiesen

So prognostiziert der IWF China inzwischen nur noch ein Wachstum von 7,75 Prozent, wobei andere Vorhersagen gar die offizielle Wachstumsvorgabe der chinesischen Staatsführung von 7,5 Prozent in Gefahr sehen.

Diese andauernde Abkühlung fördert auch der HSBC-Einkaufsmanagerindex zutage, der die Konjunkturerwartungen von Unternehmen ausdrückt - und der von 49,2 Punkten im Mai auf 48,3 Punkte im Juni absackte. Werte unter 50 Prozent deuten auf eine Kontraktion der wirtschaftlichen Tätigkeit in der Industrie hin.

Für europäische Verhältnisse mögen Wachstumswerte von mehr als sieben Prozent geradezu utopisch anmuten, doch die Volksrepublik ist auf solch eine enorme Dynamik geradezu angewiesen, da sie ihre "Ökonomie - und politische Stabilität - auf hohem Wirtschaftswachstum errichtet" habe, wie es die Washington Post formulierte.

Nur durch eine hohe Wachstumsdynamik können die enormen sozialen Verwerfungen in China überbrückt werden: Es geht um die Aufrechterhaltung einer Koexistenz von Hunderten von Millionen verelendeter Landbewohner und Wanderarbeiter, einer um ihren neu errungenen Lebensstandard besorgte Mittelklasse und einer herrschenden Staatsoligarchie mit politisch gut vernetzten Milliardären.

Der halsbrecherische kapitalistische Modernisierungskurs der chinesischen Führung gleicht somit dem Ritt auf den Rücken des Tigers einer entfesselten kapitalistischen Wachstumsdynamik. Erlahmt die Modernisierung, so droht diese an ihren sozialen Widersprüchen zu kollabieren. China muss angesichts seiner auf Export und Investitionen fixierten Wirtschaftsstruktur im Wahnsinnstempo wachsen, da ansonsten politische Instabilität droht.

Probleme für den Verkauf der Exportwaren "Made in China"

Jahrzehntelang bestand das Grundprinzip der stürmischen kapitalistischen Modernisierungsstrategie Chinas darin, durch die - mit einem Millionenheer von billigen Arbeitskräften versorgte - chinesische Exportindustrie gigantische Handelsüberschüsse gegenüber den USA und Europa anzuhäufen. Das durch diese Überschüsse akkumulierte Kapital wurde wiederum in den Ausbau und in die Modernisierung der Infrastruktur der Volksrepublik investiert. Somit ist Chinas Exportindustrie von der Wirtschaftsentwicklung in den USA und der Eurozone abhängig.

Doch es waren gerade die vor wenigen Jahren geplatzten Schuldenblasen in den Vereinigten Staaten und in Europa, die diese Währungsräume erst in die Lage versetzen, chinesische Exportüberschüsse in enormen Ausmaßen aufzunehmen. Die Volksrepublik hätte ihren gegenwärtigen Status als "Werkbank der Welt" nicht erringen können, wären die jahrelang von kreditfinanzierten Defizitkonjunkturen befeuerten Märkte in der EU und den USA nicht dermaßen aufnahmefähig gewesen.

Mit dem Ausbruch der Schuldenkrise im Westen befindet sich diese Strategie in einer Sackgasse. Insbesondere die chinesischen Exporte in den Euroraum brechen ein, doch auch in den USA wird die Nachfrage nach Exportwaren "Made in China" bald abnehmen, wie die New York Times ausführte.

Die Europäische Union, Chinas größter Handelspartner, verbleibt in einem hartnäckigen wirtschaftlichen Abschwung, während in den Vereinigten Staaten, den zweitgrößten Handelspartner Chinas, die Federal Reserve jüngst Signale aussandte, dass sie ihre stimulierende Geldpolitik eingrenzen werde.

Allein im vergangenen Mai sanken die chinesischen Exporte in die USA um 1,6 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat - die Ausfuhren in die EU gingen sogar um 9,7 Prozent zurück Chinas Exportindustrie gehen somit die - kreditfinanzierten - Absatzmärkte aus; und es ist nicht zuletzt das von Berlin in der Eurozone durchgesetzte Spardiktat, dass zu diesen Einbrüchen in dem Europa-Geschäft Chinas führt.