Sinai: Das nächste Talibanistan?

Vor allem im Inneren der Halbinsel hat der Staat nur noch wenig Kontrolle. Bild: Martin Hoffmann

Die Kontrolle des ägyptischen Staates über die Halbinsel schwindet

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Vor allem im Norden der Halbinsel ist die ägyptische Armee kaum mehr Herr des Geschehens. Eine jahrzehntelange Politik der ökonomischen Marginalisierung und Kriminalisierung der Beduinen droht sich nun zu rächen.

Die Straße, welche quer durch den Sinai nach Kairo führt, ist seit einigen Monaten für Ausländer gesperrt. Die Route durch die Wüsteneinöde führt auf direktem Weg von der Ostküste des Sinais über die kleine Wüstenstadt Nakhl zum Suez-Kanal. Die Busfahrer sind angewiesen, keine Tickets an Ausländer zu verkaufen, doch eine solche Instruktion ist in Ägypten recht leicht zu umgehen. Nimmt man als Ausländer dennoch diese Route ist eine unsanfte, aber folgenlose Polizeikontrolle nicht unwahrscheinlich.

Doch die Maßnahme dient in erster Linie dem Schutz von Ausländern.

Seitdem die Sicherheitslage im Norden des Sinais seit 2011 zunehmend außer Kontrolle geraten ist, sorgen sich die Behörden, dass auch die Tourismus-Hochburgen im Süden der Halbinsel eines Tages in den Sog der Instabilität geraten könnten. Ein Anschlag oder eine Entführung mit tödlichem Ausgang könnte dem Tourismus auf dem Sinai einen weiteren empfindlichen Einbruch bescheren.

Die Besucherzahlen liegen derzeit weit unter dem Niveau vor der Revolution 2011, doch seit den fatalen Bombenanschlägen mit 130 Toten in den Jahren 2004, 2005 und 2006 ist es im Süden der Halbinsel ruhig geblieben. Ein Kordon von Militärcheckpoints entlang der Küstenstraße sichert die Tourismuszentren vom instabilen Hinterland ab.

Im Norden des Sinais hingegen droht die Sicherheitspräsenz des Staates zu bröckeln. Erst kürzlich wurden sieben ägyptische Soldaten nahe der Grenze zum Gaza-Streifen entführt. Die Entführung konnte unblutig durch Verhandlungen beendet werden, nachdem die ägyptische Regierung auf lokale Stammesführer als Mediatoren zwischen der Regierung und den Entführern setzte.

Wie wenig selbst die ägyptische Armee, die sich ja in den letzten Tagen wieder als große Ordnungsmacht präsentierte, dort noch Herr des Geschehens ist, zeigte ein Anschlag auf einen Militärposten im vergangenen August. In der bisher schlimmsten Attacke auf ägyptische Soldaten im Sinai wurden nahe der Grenze zum Gaza-Streifen 18 Menschen getötet. Die vermutlich dschihadistisch motivierten Angreifer erbeuteten ein Militärfahrzeug und versuchten, damit die Grenze zu Israel zu durchbrechen, wo sie von israelischem Sicherheitspersonal erschossen wurden.

Ein neues Talibanistan?

Seit der ägyptischen Revolution ist die Lage auf der Wüstenhalbinsel in der sicherheitspolitisch bedeutsamen geographischen Lage zwischen Ägypten, dem Gaza-Streifen und Israel verworrener geworden. Weite Teile der Halbinsel stehen anscheinend kaum mehr unter der Kontrolle des ägyptischen Staates. Es häufen sich Berichte über Drogenanbau, Waffen- und Menschenschmuggel, dschihadistische Gruppen und Organhandel. In westlichen und israelischen Sicherheitskreisen wird der Sinai bereits als neues Sicherheitsvakuum, als potentielles nächstes Talibanistan, betrachtet.

In diesen Worst-Case-Szenarien wird häufig übersehen, dass der Sinai keine homogene Einheit ist. Der unruhige Norden und der im Verhältnis dazu stabile Süden der Halbinsel stehen ökonomisch wie auch demographisch auf verschiedenen Füßen.

Im gebirgigen Süden leben weniger als ein Drittel der Bevölkerung von geschätzten 600.000 Menschen, doch an der Ostküste befinden sich mit Dahab und Sharm-al-Sheikh auch die größten Tourismuszentren des Sinais. Nachdem Ex-Präsident Hosni Mubarak seine Sommerresidenz nach Sharm al Sheikh verlagerte, verwandelte sich der winzige Fischerort binnen weniger Jahre in das größte Tourismus-Zentrum des Sinais.

In den 1990er und 2000er Jahren setzte eine rasante touristische Entwicklung der "Riviera am Roten Meer" ein. Teilweise kilometerlange Landstriche mit Bauruinen, vor allem um die Tourismus-Zentren Sharm-al-Sheikh und Dahab, zeugen von der unbedachten, von Investoren-Interessen getriebenen Entwicklung.

Entwicklung ohne Fortschritt

Doch vom Bauboom und der rasanten touristisch Entwicklung der Küste profitierten die einheimischen Beduinenstämme verhältnismäßig wenig. Denn mit der Ansiedlung von Tourismus ging auch eine Zuwanderung von Ägyptern aus dem ägyptischen Kernland einher, welche die neu entstandenen Jobs übernahmen. In dieser Gleichung aus Investoren und billigen Arbeitskräften aus dem Niltal war wenig Platz für die Beduinen. Im besseren Falle dienten sie mit ihrem Angebot von Kamel-Touren und Wüsten-Trips als Authentizitätsfaktor im Tourismusangebot. Im schlechteren Falle wurden sie als Sicherheits-Problem betrachtet.

Militärcheckpoints sichern die Tourismuszentren an der Küste vom Hinterland ab. Die ortsansässigen Beduinen werden in solchen Checkpoints nicht selten auf schikanöse Weise vom Sicherheitspersonal kontrolliert. Teilweise setzte eine Zurückdrängung der an der Küste ansässigen Beduinen ins Hinterland ein. Dort ist eine der Einkommensquellen der Anbau von Marijuana in den schwer zugänglichen Bergtälern.

Die im Tourismus erwirtschafteten Überschüsse wurden hingegen kaum in die Entwicklung der ansässigen Bevölkerung investiert, Investitionen in Bildung oder Wasserversorgung blieben geringfügig. Der größte Ort des Süd-Sinais, welcher mehrheitlich von Beduinen bewohnt wird ist Al-Tur, eine trostlose Aneinanderreihung von tristen Betonblocks, Welten entfernt von den 5-Sterne-Hotels und Nachtclubs im nur 50 Kilometer entfernten Sharm-al-Sheikh. Immerhin sorgt ein staatliches Krankenhaus für einen Mindeststandard an gesundheitlicher Versorgung.

Die Beduinen und ihr pragmatisches Verhältnis zu Israel

Hinzu kommt ein Maß an Misstrauen zwischen Niltal-Ägyptern und Beduinen. Die Loyalität der Beduinen zum ägyptischen Staat wird von vielen Niltal-Ägyptern in Frage gestellt. Eine gängige Ansicht ist, dass die Beduinen die Autorität des ägyptischen Staates nicht akzeptieren. Auch der Vorwurf, die Beduinen hätten während der israelischen Besatzung mit des Sinais von 1967-1981 mit den Israelis kooperiert, ist weit verbreitet.

Sicherlich waren die Beduinen durch ihre traditionelle Staatsferne und der geographischen Distanz zum ägyptischen Kernland weniger stark von den politischen Trends des Landes beeinflusst. So traf auch die anti-israelischen Propaganda, die unter Nasser Staatsdoktrin war und bis heute quer durch die politische Landschaft Ägyptens zur Standardrhetorik gehört, auf dem Sinai auf weniger fruchtbaren Boden.

Andererseits wußten manche Beduinenstämme die Nähe zu Israel auf pragmatische Weise für sich zu nutzen. Bis vor kurzem war der Küstenstreifen von der israelischen Grenze bei Taba bis nach Nuweiba mit dem tiefblauen Wasser des Golfs von Aqaba und den spektakulären Gebirgsmassiven im Hintergrund ein beliebtes Naherholungsziel vieler Israelis. Reisewarnungen des israelischen Außenministeriums nach der Revolution 2011 beendeten diesen Trend. Mittlerweile sind die preiswerten, von Beduinen betriebenen Strandhütten entlang der Küste fast menschenleer. Zahlreiche Schilder in hebräischer Sprache zeugen unterdessen nach wie vor davon, wie beliebt der Sinai als Reiseziel unter Israelis war.

Bei Gesprächen mit Bewohnern Nuweibas wird bis heute deutlich, dass Ressentiments gegenüber Israel unter Niltal-Ägyptern wesentlich ausgeprägter sind als unter Beduinen. Ein junger Beduine erklärte beispielsweise: "Israelis sind meine Lieblings-Ausländer. Sie wollten Gras, sie wollten Alkohol. Mit ihnen konnten wir die besten Geschäfte machen.." Wegen ihrer fehlenden Berührungsängste gegenüber Israelis haben die Beduinen unter manchen Niltal-Ägyptern den Spitznamen "Yahud Sina" - die Juden des Sinais.

Das giftige Erbe verfehlter Sicherheitspolitik

Eine Haltung des Misstrauens gegenüber den Beduinen war während der Herrschaft Mubaraks maßgeblich für die staatliche Politik gegenüber den Stämmen des Sinais. Mubaraks Sicherheitsapparat ging ausgesprochen hart gegenüber Forderungen der Beduinen nach mehr Selbstbestimmung vor. Tausende Beduinen wurden verhaftet.

Die Politik des Sicherheitsapparates bestand darin, ein Netzwerk von loyalen Stammesführern aufzubauen, über die Einfluss auf die Beduinenstämme genommen werden konnte. Häufig genossen diese, vom Sicherheitsapparat ausgesuchten, Gesprächspartner jedoch nicht die Unterstützung der Mehrheit des jeweiligen Stammes. Dieses giftige Erbe brach sich nach der Revolution Bahn. Es kam zu etlichen Rachemorden an Stammesführern, die unter der Mubarak-Herrschaft Gegner des Regimes an den Sicherheitsapparat auslieferten.

Beduinensiedlung im Süden. Bild: Martin Hoffmann

Im Norden des Sinais sind diese Rachemorde, ebenso wie das generelle Ressentiment gegenüber den Autoritäten des ägyptischen Staates, jedoch deutlich stärker ausgeprägter als im Süden der Halbinsel. Durch die ökonomische Abhängigkeit vom Tourismus herrscht im Süden in Sicherheitsfragen ein größerer Konsens zwischen den staatlichen Autoritäten und den Beduinenstämmen vor. Im Gegensatz dazu steht die Wirtschaft des Nordens auf anderen Füßen.

Arbeitsplätze

Teile der Küstenebene werden vom ägyptischem Agro-Business genutzt, welches primär auf den Export ausgerichtet ist. Außerdem spielt staatlich geförderte Industrie, z.B. im Bereich der Öl- und der Zementproduktion, eine Rolle. Doch ebenso wie im Süden ist die Bevölkerung auch im Norden mehrheitlich nicht Nutznießer der staatlich betriebenen ökonomischen Entwicklung.

Die intensive Nutzung der Wasserressourcen durch die Agro-Großbetriebe steht im krassen Gegensatz zu der oft mangelhaften Wasserversorgung in den Ortschaften der Beduinen. Im Industriesektor stellen ebenso wie in den Hotels des Südens zugezogene Arbeitsmigranten aus dem ägyptischen Kernland den Großteil der Arbeitskräfte.

Einer der größten Arbeitgeber in der Region ist das Hauptquartier der multinationalen Friedenstruppe MFO (Multinational Force and Observers), welche unter UN-Mandat die Einhaltung des Friedensvertrags zwischen Ägypten und Israel überwachen soll. Die Rekrutierung von Arbeitnehmern ist eng mit dem ägyptischen Sicherheitsapparat koordiniert und dieser weigert sich, Beduinen für höhere Positionen zu rekrutieren.

"Radikaler Islam ist eine andere Sache in Kairo als auf dem Sinai"

Außerdem sorgt die Nähe zum Gaza-Streifen für eine andere Bevölkerungszusammensetzung. So leben neben den alteingesessenen Beduinenstämmen und den zugezogenen Niltal-Ägyptern auch Palästinenser im Norden des Sinais, vor allem in Al-Arish, Sheikh Zuweyd und der geteilten Grenzsstadt Rafah. Durch die räumliche Nähe und die Familienverbindungen nach Gaza ist der israelisch-palästinensische Konflikt präsenter.

Auch dschihadistische Gruppen aus dem Gaza-Streifen sollen sich im Norden des Sinais niedergelassen haben und dort zusammen mit Islamisten aus dem ägyptischen Kernland versuchen, Anhänger unter der lokalen Bevölkerung zu rekrutieren. Auch der Vorwurf, die Hamas versuche, über die Palästinenser im Sinai ihren Einfluss auszuweiten, ist verbreitet.

Für den Anschlag mit 18 Toten auf den äygptischen Armeeposten im August 2012 wurden palästinenische Dschihadisten verantwortlich gemacht. Augenzeugen des Anschlags geben an, den palästinensischen Dialekt der Angreifer erkannt zu haben.

Nach Meinungen mancher ist die Beduinenbevölkerung jedoch nicht sonderlich anfällig für die Durchdringung mit islamistischen Ideen. Die Zeitung Egypt Indenpendent zitiert einen lokalen Sheikh mit den Worten: "Radikaler Islam ist eine andere Sache in Kairo als auf dem Sinai. In Stammesgesellschaften haben militante islamistische Ideen mehr Probleme, sich zu verbreiten." Die Islamisten würden auf Widerstand unter den Stammesführern stoßen, welche durch solche Ideen ihren eigenen Einfluss gefährdet sähen.

Boombranche Grenzschmuggel

Die Nähe zum Gaza-Streifen hat jedoch in Kombination mit der Marginalisierung der Beduinen von weiten Teilen des formalen Arbeitsmarktes einen neuen Einkommenszweig florieren lassen: den Grenzschmuggel.

Seit der 2007 einsetzenden israelisch-ägyptischen Blockade des Gaza-Streifens ist der Schmuggel vom Sinai nach Gaza ein profitables Geschäft geworden. Entlang der 15 Kilometer langen Grenze wurde unter der Erde ein gut organisiertes System von Tunneln verschiedener Größe ausgehoben. Augenzeugen berichten, dass die größten der Tunnel von Stahlträgern gehalten werden so groß sind, dass in ihnen Fahrzeuge transportiert werden können.

Geschmuggelt wird in den wirtschaftlich abgeschotteten und verarmten Gaza-Streifen nicht nur jede Form von Konsumgütern, sondern seit der Revolution zunehmend auch Waffen. Viele davon kommen aus den gestürmten Depots des ehemaligen libyschen Machthabers Moammar al Ghadaffi und werden über die Küstensstraße bis zur Grenze transportiert. So sind die Stämme auf dem Sinai heute besser bewaffnet als vor der Revolution.

Und auch wenn die Blockade des Gaza-Streifens die Mehrheit der Bevölkerung innerhalb der Enklave weiter verarmen ließ, haben manche Familien im Grenzland durch den lukrativen Schmuggel beträchtlichen Wohlstand angehäuft.

Das lukrative Geschäft mit Menschen

Anderere Beduinenstämme hingegen schmuggeln über die 240 Kilometer lange Grenze zwischen dem Sinai und Israel. Doch deren Schmuggel speist sich aus anderen Quellen. Neben Marijuana sind Flüchtlinge aus Ostafrika, vor allem aus dem Sudan und Eritrea, eine profitable Einkommensquelle. Nach verschiedenen Quellenangaben lassen sich beduinische Schmuggler 3000-4000 Dollar pro Kopf für den Schmuggel über die Grenze bezahlen.

Nicht in allen Fällen nehmen die Schmuggler ihren Teil der Verpflichtung wahr. Prince, ein Flüchtling aus Liberia, erzählt, wie der Lastwagen mit afrikanischen Flüchtlingen, in dem er reiste, in der Wüste von bewaffneten Männern überfallen wurde. Den Flüchtlinge wurde das Geld für die Passage geraubt und sie wurden in der Wüste zurückgelassen.

In den vergangenen zwei Jahren sollen es dennoch zwischen 60.000 und 70.000 afrikanischer Flüchtlinge nach Israel geschafft haben. Viele davon haben sich im Tel Aviver Stadtteil HaTikva niedergelassen, eine kleine afrikanische Infrastruktur entstand im verarmten Stadtteil um den alten Busbahnhof.

Planlose Kairoer Regierung

Doch nachdem es dort im Mai 2012 zu Randalen gegenüber afrikanischen Migranten kam, reagierte die israelische Regierung auf den wachsenden Flüchtlingssstrom über die Grenze. Sie begann damit, einen Grenzzaun zu errichten. Mit der baldigen Vollendung des Zauns ist es wahrscheinlich, dass Teile der Schmugglerbanden sich neue Wege des Profits suchen. Bereits jetzt häufen sich Berichte von gewaltsamen Erpressungen afrikanischer Flüchtlinge und Organhandel.

Mit der Erosion staatlicher Kontrolle auf dem Sinai seit der Revolution droht sich nun auch die jahrzehntelange ökonomische Marginalisierung und Kriminalisierung der Beduinen durch die sicherheits-fixierte Politik der Regierung in Kairo zu rächen. Der Beduinen-Aktivist Sellim aus Nuweiba sagt:

Die Regierung agiert ohne Konzept und Plan auf dem Sinai. Wenn sie weitere Probleme vermeiden will, sollte sie endlich anfangen in die Menschen hier zu investieren.

Der aus dem Nildelta zugezogene Arzt Mohamed Khateeb, der im südlichen Al-Tur in einem staatlichen Krankenhaus arbeitet, entwirft ein düsteres Szenario: "Auf dem Sinai ist es so lange sicher, bis es nicht mehr sicher ist. Auch hier im Süden kann jederzeit etwas passieren."

Literatur: Nicolas Pelham, Sinai: The buffer erodes