Fünf Jahre nach dem Ende der Theorie

PRISM und Tempora künden von einem erkenntnistheoretischen Paradigmenwechsel

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Im Jahr 2008 schrieb der Wired-Herausgeber Chris Anderson seinen Essay The End of Theory, in dem er die Meinung formulierte, dass Daten in unvorstellbarer Menge imstande seien, das Paradigma der theoriengeleiteten Forschung abzulösen. Korrelation ist demnach die neue Kausalität. Wenn nur genügend Daten zur Verfügung stünden, werde der kausallogische Zusammenhang nebensächlich. Allein über die Korrelationen ließen sich Vorhersagen treffen, die sämtlichen theorie-, hypothesen- und kausallogisch geleiteten Prognosen überlegen sind.

Anderson ist für seine These heftig kritisiert worden. Das Ende von Erkenntnis und Abendland wurde ausgerufen. Es wurden komplizierte Argumentationen angestellt, warum nicht doch die zündende menschliche Idee den kühlen maschinellen Daten überlegen sei.

Allein genützt hat es nichts. Während das von Anderson bezeichnete Petabyte-Zeitalter im Jahr 2008 noch in der Zukunft lag, können wir spätestens seit dem Bekanntwerden von PRISM und Tempora davon ausgehen, dass das Datenzeitalter inzwischen unweigerlich angebrochen ist.

Das Ende der Theorie der Unschuldsvermutung

PRISM und Tempora hebeln eine Generalhypothese der westlichen Rechtsstaatlichkeit aus, jene Annahme, die es in jedem strafrechtlichen Verfahren zu falsifizieren gilt, bevor ein Mensch juristisch belangt werden kann: die Unschuldsvermutung. Häufig wird nun angenommen, der Unschuldsvermutung setzten die Architekten von PRISM und Tempora die generalisierte Schuldvermutung gegenüber. Man vermutet also die angelsächsischen Geheimdienste verträten eine Theorie, nach der alle Menschen schuldig oder zumindest potentiell schuldig seien.

Möglicherweise jedoch handeln diese Big Data Aggregatoren genau so wie es Chris Anderson prophezeit hat: Sie haben gar keine Theorie. Sie sammeln nur Daten. Und zwar möglichst alle Daten. Für die datenmäßige Beobachtung menschlichen Verhaltens und dessen Vorhersage spielt schlicht die Annahme, ob jemand schuldig ist oder nicht, keine Rolle mehr. Es gibt keine Theorie mehr, ob der Mensch gut oder böse ist. Der Mensch verhält sich einfach - und je mehr dieses Verhaltens man erfasst, desto präzisere Vorhersagen kann man daraus treffen.

Ab einer verhältnismäßig kleinen Datenmenge wird jede Korrelation signifikant. Wenn das Einkaufsverhalten irgendeiner Person, die bei Amazon bestellt, mit dem Einkaufsverhalten irgendeines Menschen, der auf irgendeine Weise extremistische Äußerungen getan hat, korreliert, sind die Gründe für diese Korrelation vollkommen gleichgültig. Keine Annahme über Milieus, keine Theorie über Sozialisiation oder sozialpsychologische Dynamiken spielt dann eine Rolle. Die entstandene Korrelation ist interessant - ob sich hierfür nun post hoc eine passende Theorie finden lässt oder auch nicht. Die Korrelationen des Verhaltens einer Person sagen mehr aus als Annahmen über die Gründe ihres Verhaltens oder ihrer Einstellungen.

Sozialwissenschaft nach dem Ende der Sozialwissenschaft

Wer mit Daten statistisch umzugehen weiß, muss niemals von Ulrich Beck, Richard Sennett, Leon Festinger oder Henri Tajfel gehört haben um dennoch präzisere Vorhersagen über menschliches Verhalten treffen zu können als die gesamte theoriegeleitete Sozialwissenschaft des 20. Jahrhunderts.

Wie wir inzwischen wissen: Kein Buchhändler kann so gute Kaufempfehlungen geben wie Amazon und kein Schriftsteller kennt das Leseverhalten und überhaupt das ganze Leben seiner Leser so gut wie der sich zum Großverleger aufschwingende potentielle Monopolist aus Seattle. Kein Werbefritze kann so passgenaue Anzeigen schalten und kein Politikwissenschaftler so präzise Aussagen über Wählerschaften treffen wie Google, kein Musiker kennt seine Hörer so gut wie Apple, kein Soziologe oder Psychologe kann auch nur im entferntesten mit Aussagen über Erleben und Verhalten von Menschen mithalten, die von Facebook getroffen werden.

Die Reihe ließe sich fortsetzen - und es muss hinzugefügt werden: All das funktioniert ohne jede Theorie, ohne kausallogische Begründungen, nur über Korrelation.

Nichts ist so praktisch wie keine Theorie

Karl Popper soll in seinen Wissenschaftstheorievorlesungen seine Studenten gefragt haben, wie denn wissenschaftliche Erkenntnis funktioniere. Auf die Antwort: "Durch Beobachtung" soll er sinngemäß lakonisch geantwortet haben: "Na dann: beobachten Sie mal."

Natürlich meinte Popper damit, dass man immer einen Ausschnitt wählen müsse, um zu beobachten. Wer also eine Wand beobachtet, konzentriert sich auf Spinnweben, Flecken, Tapetenmuster, Fingerabdrücke oder was auch immer, um die Aufgabe des Beobachtens zu erfüllen. Selbst bei dieser einfachen Aufgabe bilde man also eine Theorie und eine solche Theorie sei niemals wertfrei. Folglich solle man vor den Beginn einer Beobachtung das Formulieren einer Theorie stellen - einer kühnen Theorie, in der die eigenen Werthaltungen expliziert sind und die man anschließend falsifizieren könne. Das Formulieren ist heute nicht mehr notwendig, um zu alles zu jeder Zeit zu beobachten und miteinander korrelieren.

Das Beobachten ist zu einem Wert an sich geworden. Deshalb verstehen die Befürworter von PRISM und Tempora die Aufregung um die bekannt gewordenen Geheimnisse nicht. Sie beobachten eben. Und sie halten das Beobachten für wichtig - und sie werden mit ihren Prognosen eine viel höhere Trefferwahrscheinlichkeit haben als jegliches kriminalistische und geheimdienstliche Projekt, das es zuvor gegeben hat. An kaum einem Satz wird dieser Paradigmenwechsel so deutlich wie an dem erkenntnistheoretischen Leitsatz des oben bereits erwähnten Sozialpsychologen Kurt Lewin: "Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie." Das klingt immer noch sympathisch. Allerdings kann diese Annahme inzwischen als vielfach falsifiziert betrachtet werden. Denn in Wirklichkeit scheint inzwischen nichts praktischer zu sein als der Zugriff auf unbegrenzt viele Daten.

Prof. Dr. Claas Triebel ist Autor und Psychologe, er arbeitet als wissenschaftlicher Berater und lehrt Wirtschaftspsychologie an der Hochschule für Angewandtes Management.

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