Ägypten: Revolution, zweiter Anlauf

Mit einer millionenfachen Unterstützung aus der Bevölkerung im Rücken stellt die Bewegung Tamarod ein Rücktrittsultimatum an Präsident Mursi

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Die Armee hat sich bisher mit Zuschauen begnügt. Armeehubschrauber beobachteten die Demonstrationen in Kairo, Alexandria, Ismailia, Port Said, im Gouvernement al-Minufiyya und anderen Orten. Ihre Schätzung des Massen übertrifft alle anderen. Einer Nachrichtenagentur gegenüber sprach ein Militär von 14 Millionen Teilnehmern, die sich über die Regierung Mursi empörten. 22 Millionen haben bislang eine Petition unterzeichnet, die statuiert, dass Mursi "kein legitimer Präsident Ägyptens" ist.

In Umlauf gebracht hat die Petition Tamarod, eine im April gegründete Kampagne, die auch die gestrige Protestbewegung Mursi organisierte. Sie stellte dem Präsidenten nun ein Ultimatum, womit sie ihn bis Dienstag, Ortszeit 17 Uhr, zum Rücktritt und zu Neuwahlen auffordert Ansonsten müsste Mursi mit zivilem Ungehorsam rechnen. Tamarod rief die Unterstützer dazu auf, umgehend damit zu beginnen.

Mursi hatte ein solches Ansinnen - die Petition gegen ihn ist ja schon seit Wochen im Umlauf - noch am Wochenende abgelehnt. Auch in der jüngsten Stellungnahme seines Sprechers ist davon nicht die Rede, sondern nur vom Angebot Mursis zum "Nationalen Dialog". Dazu ist das Tamarod-Bündnis nicht bereit. Keine Verhandlungen heißt es.

Ob es nun nur acht Millionen oder mehr waren, die gestern auf die ägyptischen Straßen gingen, ob es mehr waren als im revolutionären Januar 2011, kein Staatschef der Welt kann einen solchen Protest ignorieren. Ob Mursi ihn aussitzen kann?

Bislang war, es den Beschreibungen nach zu urteilen, ein Fest, dass das Wiederaufleben der Revolution feierte, weitgehend friedlich, für die enorme Zahl der Demonstranten sogar außerordentlich friedlich. Doch kam es auch zu gewalttätigen Akten und Konfrontationen - das Hauptquartier der Muslimbrüder in Kairo wurde Molotow-Cocktails beworfen und gestürmt - und die bisherige Bilanz weist landesweit 16 Tote auf. Kommt aus der Regierung kein politisches Angebot, das ernsthaftes Entgegenkommen signalisiert, so könnte die Stimmung umschlagen in Frustration und sich auf beiden Seiten Wut breitmachen. Vier Minister, die zurückgetreten sind, dürften als Signal nicht reichen.

Keine Jugendbewegung

Die Muslimbrüder haben die Petition anfangs noch unterschätzt und sich darüber mokiert. Nun müssen sie zur Kenntnis nehmen, dass der Widerstand viel größer ist, als nicht nur von ihnen erwartet. Die Proteste sind den Berichten zufolge nicht in die Schemata "Jugend rebelliert" oder "von alten Mubarak-Eliten gesteuert", "vom Drahtziehern im Ausland inszeniert" zu pressen. Die wirtschaftlich miserable Situation spielt ebenso eine Rolle wie die Arroganz der Macht, die Mursi spätestens seit November letzten Jahres offen zutage legte, als er die Justiz als Hindernis aus dem Weg räumen wollte, große Machtkompetenzen für sich verlangte und eine neue Verfassung, die, wie kritisiert wurde, auf Interessen der Muslimbrüder zugeschnitten ist, durchpeitschte.

Hinter "Tamarod" versammeln sich Gruppen, die vom Januar 2011 bekannt sind, wie die Jugend des 6. April, Oppositionsbewegungen, die schon zu Zeiten Mubaraks mobilisierten, wie die Kefaya, die allerdings mit Tamarod nicht ineinsgesetzt werden will, Parteien wie ägyptische Sozialdemokartische Partei, die Partei der Freien Ägypter, die Popular Current Constitution Party und auch die Nationale Heilsfront, die Allianz der Oppositionsparteien, wo bekannte Namen wie El Baradei und Amr Moussa federführend sind, hat sich angeschlossen.

Da ist natürlich auch einiger politischer Opportunismus im Spiel. Doch sind auch Gewerkschaften, wie schon 2011, dabei und die Vertreter von Arbeitern der Textilindustrie aus Al-Mahalla al-Kubra, das schon zu Zeiten Mubaraks ein Zentrum des Widerstands gegen autoritäre, neoliberale Wirtschaftspolitik war. Wer gestern demonstrierte, ist aber lange nicht jedem Lager zuzuordnen. Es scheint, als ob sich halb Ägypten auf den Weg machte, um Mursi zu zeigen, dass er eine großen Anteil der Bevölkerung gegen sich hat.

Plan B?

Die Einheit, die sich diese Tage auf beeindruckende Weise zeigt, hat wahrscheinlich ein Verfallsdatum. Wie Mursi damit kalkulieren könnte, ist fraglich, weil Dynamiken, die sich nun Bahn gebrochen haben, schlecht auszurechnen sind. Die Frage ist aber auch, ob es die Revolutionäre im zweiten Anlauf schaffen, den Willen zu einem neuen Ägypten politisch umzusetzen, woran sie nach dem Januar 2011 gescheitert sind - bb sie einen politischen Plan B haben für die Tage nach den Protesten.

Neben dem Verhalten der Armee dürfte es für Mursi, was seine Rückendeckung angeht, auch darauf ankommen, wie sich andere Länder zu ihm stellen. Zum Beispiel die USA, wie wird sich Obama den Forderungen der Opposition gegenüber positionieren?

Auf dem Tahrirplatz und andernorts waren anti-amerikanische Proteste angeblich nicht zu überhören.