"Wir haben hier alle etwas falsch gemacht"

Systemkrise, Schulden und Kindergartenwirtschaft - der Ökonom Heiner Flassbeck über Wirtschaften unter einem Spardiktat

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Wir befinden uns in der größten Krise seit den 1930er Jahren, folgern die fünf Ökonomen Heiner Flassbeck, Paul Davidson, James K. Galbraith, Richard Koo und Jayati Ghosh in ihrem neuen Buch "Handelt jetzt!", ein selbsternanntes, globales Manifest "zur Rettung der Wirtschaft". Welche Wege gibt es aus der gegenwärtigen Wirtschafts- und Systemkrise? Telepolis sprach mit Heiner Flassbeck, dem ehemaligen Chef-Volkswirt der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD).

Herr Flassbeck, Sie schreiben, dass wir uns in der tiefsten Krise seit den 1930er Jahren befinden, die neoliberale Agenda habe "fundamental versagt". Was ist schief gelaufen?

Heiner Flassbeck: Seit den 1970er Jahren vertrauen wir bei der Entwicklung und Gestaltung der Marktwirtschaft darauf, dass alles durch Investitionstätigkeiten der Unternehmen abgedeckt werden kann. Das funktioniert nicht. Wir haben über drei Jahrzehnte eine Lehre verfolgt, die angebotsorientiert ist, die sogenannte Neo-Klassik, die angenommen hat, dass man den Unternehmen nur genug Geld in die Tasche stecken müsse, damit diese dann auf Teufel komm raus investieren werden. Das ist nicht passiert, und das wird auch in Zukunft nicht passieren. Diese Annahme war und ist grundlegend falsch.

Warum ist sie falsch?

Heiner Flassbeck: Die entscheidende Voraussetzung für das Funktionieren eines ökonomischen Systems ist, dass der Verbraucher genug in der Tasche hat und dieses Geld wieder den Unternehmen über den Konsum zufließt. Diese Tatsache ist jahrelang strikt vernachlässigt worden. Gerade jetzt müsste der Konsum wieder anspringen, damit die Konjunktur belebt wird, das tut er aber nicht, weil die Menschen zu wenig zum Konsumieren haben. Darum müssen wir dafür sorgen, dass die Löhne, also die Nominallöhne, wieder mindestens so stark steigen wie die Produktivität plus dem Inflationsziel.

Sie sprechen sich auch für Mindestlöhne aus.

Heiner Flassbeck: Ja, Mindestlöhne sind aber nur ein Aspekt, das ist nicht das Ganze. Wir brauchen generell eine Rückkehr zu einer vernünftigen Verteilungssituation, durch die Arbeit wieder gleichberechtigt beteiligt wird. Die Arbeitnehmer müssen jedes Jahr systematisch am Produktivitätswachstum der Unternehmen beteiligt werden.

Es gibt keine Wirtschaft, die ohne Schulden funktioniert, wenn gleichzeitig gespart wird

Sie sprechen in Ihrem Buch von einem "Unterbietungswettlauf", der immer weitere Gräben in die Gesellschaft reißt...

Heiner Flassbeck: Das kommt noch hinzu, das ist sozusagen die nächste Stufe. Wenn man keine andere Möglichkeit mehr sieht, die Wirtschaft zu beleben, dann versucht man es eben durch einen Unterbietungs- oder Abwertungswettlauf, so dass es anderen schlechter und einem selbst besser geht. Das war in den 1930er Jahren ebenfalls so und hat schließlich zum Kollaps der Weltwirtschaft geführt. Die Politik hat aus diesen Lehren nichts gelernt.

Was schlagen Sie als Lösung vor?

Heiner Flassbeck: Der einzige Weg, um aus dieser Rezession heraus zu kommen, ist Geld auszugeben. In einer solchen Situation darf nicht auf allen Seiten gespart werden. Und irgendjemand muss Schulden machen, sonst geht es auch nicht. Diese Erkenntnis müsste sich langsam einmal rumsprechen. Es gibt keine Wirtschaft, die ohne Schulden funktioniert, wenn gleichzeitig gespart wird.

Wer soll Ihrer Meinung nach die Schulden machen?

Heiner Flassbeck: Darüber kann man streiten, entweder die Unternehmen oder der Staat.

Die Unternehmen?

Heiner Flassbeck: Ja, selbstverständlich. Wenn man sagt, der Staat soll keine Schulden machen, müssen es die Unternehmen tun, ganz einfach. Dann muss man die Unternehmen so besteuern, dass sie keine Chance mehr haben, Gewinne zu erzielen, außer sie machen zuvor Schulden. Natürlich kann auch der Staat die Schulden machen, aber wenn man das nicht mag, muss man die Unternehmen verpflichten.

Irgendeiner muss es tun, sonst bricht die Wirtschaft zusammen. Die Logik, dass eine Wirtschaft unter einem Spardiktat funktioniert, geht einfach nicht auf, das ist Kindergartenwirtschaft. Bislang ist in Deutschland die Rechnung nur aufgegangen, weil sich das Ausland massiv verschuldet hat.

Nicht alle Länder zugleich können ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern

Können Sie das näher erklären?

Heiner Flassbeck: Auf der Welt können nicht alle Länder zugleich ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Die Zunahme der Wettbewerbsfähigkeit des einen bedeutet immer den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit eines anderen. Deutschland hat seine Wettbewerbsfähigkeit die letzten Jahre massiv auf Kosten der südeuropäischen Länder und Frankreichs gesteigert; Deutschland ist vom gemeinsam festgelegten Inflationsziel von zwei Prozent der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion nach unten abgewichen, Südeuropa nach oben, nur Frankreich lag immer genau auf dem Inflationsziel.

Dadurch hat Deutschland enorme Leistungsbilanzüberschüsse erzielt, die anderen mussten sich verschulden. Deutschland ist nicht stark wegen hoher Produktivität, sondern weil es seine Wettbewerbsfähigkeit mit Hilfe geringer Löhne im eigenen Land gesteigert hat. Die Länder Südeuropas weisen hingegen Leistungsbilanzdefizite auf, sie haben verhältnismäßig zu hohe Löhne ausgezahlt und über ihren Verhältnissen gelebt.

Das zentrale Problem der letzten Jahre war ein Auseinanderlaufen der Preise und die daraus sich ergebenden Folgen für den internationalen Handel. Deutsche Produkte wurden billiger, es gibt einen 25prozentigen Preisunterschied zwischen Deutschland und den südeuropäischen Ländern. Und das in einer Währungsunion, das ist das Problem. Wer kauft dann noch Produkte aus Südeuropa? So erzielen wir seit Jahren Exportüberschüsse zu Lasten der anderen Länder.

Was müsste folglich getan werden?

Heiner Flassbeck: Wir müssen allmählich unsere Wettbewerbsfähigkeit zu Gunsten der südeuropäischen Ländern wieder senken, indem wir unsere Löhne anheben und mehr importieren, sodass die südeuropäischen Länder Leistungsbilanzüberschüsse erzielen und ihre Schulden zurückzahlen können. Zugleich müssen die südeuropäischen Länder ihre Lohnsteigerungen abmildern. Lohnsenkungen um über 20 Prozent in ganz kurzer Zeit, wie es diesen Ländern jetzt auferlegt wird, ist abwegig. Dadurch bricht der Binnenmarkt dort zusammen und es entsteht Arbeitslosigkeit.

Die Löhne müssen den Ausgleich herbeiführen, denn in der Währungsunion gibt es das bewährte Mittel der Abwertung nicht. Das ist die Systemkrise, die wir in der Euro-Zone haben. Senken alle die Löhne und erhöht Deutschland sie nicht, droht für alle eine Deflation. Das wäre dann die eigentliche Katastrophe, aus der wir dann in den nächsten Jahrzehnten nicht wieder herauskommen werden.

Schäubles Fehler

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) will, dass in den anderen Ländern Südeuropas weiter gespart wird.

Heiner Flassbeck: Ja, und das ist fundamental falsch. Mitten in der größten Rezession, die Europa wahrscheinlich jemals erleben wird, kann ein Staat nicht sparen wie ein privater Haushalt. Dann fallen auch seine Einnahmen; dann kann man die Defizite nicht zurückfahren, sondern sie steigen weiter. Das Problem sind auch nicht die Staatsschulden: Spaniens Staatsschulden sind niedriger als die deutschen, trotzdem haben sie einen irren Zinsaufschlag.

Japan wiederum hat einen Schuldenstand mehr als doppelt so hoch wie die gesamte Wirtschaftsleistung, also 200 Prozent Schulden am laufenden Einkommen, Japan geht trotzdem nicht unter, es hat die tiefsten Zinsen weltweit. Wir dürfen in einer solchen Situation nicht sparen, sonst produzieren wir Arbeitslosigkeit.

Die Zentralbanken wollen mehr Geld zur Verfügung stellen, indem sie den Banken unbegrenzt Geld leihen. Ist das eine Lösung?

Heiner Flassbeck: Das ist nur eine Notmaßnahme, und es zeigt die Verzweiflung an diesen Märkten, wenn sich die Banken untereinander nicht mehr genügend Geld leihen, weil das Vertrauen schwindet und deswegen die Notenbanken als Verleiher zwischen den Banken eintreten.

Sollten die europäischen Zentralbanken Staatsanleihen gefährdeter Eurostaaten in großem Stil aufkaufen und die Leitzinsen senken?

Heiner Flassbeck: Natürlich muss die Zentralbank in der Lage sein, auf den Märkten massiv einzugreifen. Das kann aber auch nur eine Überbrückungsmaßnahme sein, das kann die Europäische Zentralbank nicht über Jahre tun. Man muss dem eigentlichen Problem auf den Grund gehen, dem Auseinanderlaufenden der Wettbewerbsfähigkeit in der Europäischen Währungsunion.

Die Wirtschaft kann man in jede beliebige Richtung steuern

Dazu fordern Sie insgesamt mehr Wachstum. Viele Kapitalismuskritiker fordern gerade in dieser Zeit mehr Verzicht im Sinne einer sozialen Ökonomie, die auf Nachhaltigkeit bedacht ist. Wie passt das zusammen?

Heiner Flassbeck: Moment, das machen wir dann übermorgen. Wir müssen jetzt erst einmal heraus kommen aus dieser Rezession. Wir müssen erst einmal dieses Problem lösen, dann sind auch Lösungen für die ökologischen Fragen machbar. Die Wirtschaft kann man in jede beliebige Richtung steuern, man muss es nur wollen und konkret angehen. Dafür brauchen wir aber kompetente Politiker und nicht welche, die Brüningsche Politik machen wie die derzeitige Bundesregierung.

Sie haben das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik in Ihrem Buch "Gescheitert" angeprangert. Dort heißt es: "Deutschland muss endlich wieder wirtschaftspolitisch erwachsen werden", das war 2009. Was hat sich seitdem Ihrer Meinung nach getan?

Heiner Flassbeck: Um ehrlich zu sein, wenig. Der Dogmatismus der Politik ist meines Erachtens noch größer geworden. Die Politik ist derzeit einfach nicht in der Lage, sich mit den tiefgreifenden Problemen des Wirtschaftens auseinanderzusetzen. Da muss man sich nur die FDP anschauen, die in ihr Wahlprogramm schreibt, man müsse nur Schulden, Schulden und nochmals Schulden abbauen. Was für ein Irrsinn! Das ist doch lächerlich. Händeringend werden derzeit auf dieser Welt Schuldner gesucht, warum senken die Zentralbanken sonst die Zinsen auf Null? Wer nicht einmal in der Lage ist, dieses Problem zu erkennen, wie soll er dann die ganze Wirtschaft steuern können?

Sogar die FDP denkt aber mittlerweile über Mindestlöhne nach, Angela Merkel erwägt eine Tobin-Tax-Steuer, eine stärkere Bankenregulierung wird in allen Parteien diskutiert. Sind das keine Fortschritte?

Heiner Flassbeck: Da wird im Einzelnen hier und da an entsprechenden Schrauben gedreht, aber die eigentliche Frage, wie wir gesamteuropäisch aus dieser Rezession heraus kommen, wird nicht behandelt. Politisch wird eher von Fall zu Fall entschieden, wie ein Land aus der Krise kommen könnte, es fehlt aber eine systematische Lösung.

"Wir haben nicht begriffen, was eine Währungsunion ist"

Sie fordern in Ihrem neuen Buch mit anderen Wirtschaftwissenschaftlern einen 'globalen Wirtschaftsrat'. Was hat es damit auf sich?

Heiner Flassbeck: Alle bisherigen Versuche, etwas global zu steuern, sind bislang gescheitert. Die G20 funktioniert nicht mehr, die UNO ist zu groß, vielleicht auch zu schwerfällig. Alle anderen Gremien wie der Internationale Währungsfonds sind US-dominiert. Es gibt derzeit kein Forum, in dem ernsthaft die globalen Fragen besprochen werden. Doch wir können und müssen nach gemeinsamen Lösungen suchen, sonst können wir das mit der Globalisierung auch gleich sein lassen. Wir können keine globalisierte Wirtschaft haben ohne globale Regeln.

Woran liegt die Schwierigkeit, dass es bislang nicht funktioniert?

Heiner Flassbeck: Die Länder blockieren sich gegenseitig, das ist jedoch weniger eine Frage der Interessenlagen als unterschiedlicher Dogmen. Ich habe die letzten drei Jahre in G20 gesessen und habe das alles miterlebt, auch da prallen die dogmatischen Fronten hart aufeinander. Und auch da verteidigt Deutschland auf Teufel komm raus seine Austeritätspolitik. Die Haltung Deutschlands ist ja sehr schlicht: Die anderen in Europa haben Fehler gemacht, darum müssen sie sich nun auf Teufel komm raus sparen. Gerade jetzt wäre aber der Zeitpunkt zu sagen, wir haben hier alle etwas falsch gemacht, wir haben nicht begriffen, was eine Währungsunion ist.

Die Amerikaner kritisieren zwar die deutsche Haltung, dafür gibt es bei denen andere Tabus, etwa wenn es um die Freiheit der Finanzmärkte geht. Es gibt derzeit einfach keine Institution, die in der Lage wäre, wenigstens intellektuelle Grundlagen zu schaffen, wie eine gemeinsame vernünftige Wirtschaftspolitik aussehen könnte, das bleibt alles stecken im primitiv Politisch-Bürokratischen.

Herr Flassbeck, warum gehen Sie eigentlich nicht in die Politik?

Heiner Flassbeck: Das lässt sich relativ leicht beantworten, dazu muss man sich nur die Parteien anschauen, und dann wird einem klar, warum ein halbwegs intelligenter Mensch das nicht machen will. Wenn man sich vergegenwärtigt, welche Wege eine politische Karriere abverlangt, welche Ochsentour man durchstehen muss, um an eine vernünftige Position zu kommen und welchen Streit man da mit irgendwelchen Flügeln und Gegner durchzustehen hat, da verliert man schnell die Lust.

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