Der neoliberale Präsident Baschar al-Assad

Der blinde Fleck im Blick auf den Krieg in Syrien

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Die Nachrichten aus Syrien richten sich seit längerem auf ein Kräftefeld aus, das von konfessionellen Konflikten bestimmt ist. Das führt zu den Parteinnahmen, die in deutschen, französischen, britischen und amerikanischen Diskussionsforen zu Syrien-Berichten einer gleichen Linie folgen.

Grob gesagt: Wer den regierenden Präsidenten Baschar al-Assad unterstützt, der ist für die säkularen Kräfte, die sich gegen den religiösen Wahnsinn, gegen al-Qaida, gegen eine talibanähnliche Herrschaft wehren. Wer mit der Opposition sympathisiert, reiht sich in die Front der skrupellosen Dschihadisten. Darüber baut das nächste Stockwerk, wo laut häufigen Diskussionsbeiträgen die internationalen Drahtzieher agieren. Auf dem geostrategischen Level gilt die politisch-moralische Grundordnung: Wer es mit der Opposition hält, der unterstützt den neokolonialen Imperialismus, die Feinde Syriens, die sich Freunde nennen: die USA, Saudi-Arabien, Katar, die Türkei, Großbritannien und Frankreich. Sie alle nutzen die religiös aufgeladenen Spaltungen für ihre Manöver.

Ganz ähnlich erklärt auch der syrische Präsident Baschar al-Assad die großen Kraftlinien, die den Konflikt in seinem Land prägen: ausländische Hegemonialinteressen und religiöse Terroristen, die im säkularen demokratischen Staat Chaos säen, um einen Regime-Change herbeizuführen.

Diese vereinfachende, bipolare Sicht auf den syrischen Krieg sei fatal und gefährlich, argumentieren José Ciro Martínez und Bassam Haddad (hier und hier), weil sie eine Komponente außer Acht lasse, die wesentlich sei für die Zukunft des Landes: die Frage nach den Ursachen des Konflikts. Beide Autoren rücken die Wirtschafts-und Machtpolitik der Baath-Partei in den Vordergrund. Das religiöse Pulverfass ist in dieser Sicht ein nachgeordneter Faktor, weil er eine von Machtinteressen abhängige Variable ist.

Neoliberale Klientel-Wirtschaftspolitik

Für Haddad und Martinenz liegt die Initialzündung des Aufstandes gegen die Regierung Assad, nicht in den Händen der CIA und auch nicht bei den ersten Protesten und ihrer Niederschlagung im März 2011 ("Nur Gott, Syrien und Freiheit" - oder mehr?). Sondern in der Klientel-Wirtschaftspolitik der Regierung, die es in den Jahren zuvor dazu kommen ließ, dass Angehörige jener Bevölkerungsschicht, die zum Kern der Baath-Partei-Anhängerschaft gehörte, auf der gegnerischen Seite standen: die verarmte Landbevölkerung und ein großer Teil der Jugend, für die das Wirtschaftssystem Syriens keine Aussichten bot.

Als entscheidende Wende bezeichnet Haddad die syrische Regierungspolitik nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre. Da nun der Mittelzufluss vom eng Verbündeten stark reduziert wurde und der Zugang zu ausländischen Märkten verstellt, habe die Regierung darauf gesetzt, ihre "populistische Politik" aufzugeben, um mit Geschäftsleuten neue Allianzen einzugehen. Arbeiter und Bauern wurden langsam aus den Netzwerken staatlicher Unterstützung ausgeschlossen.

Der Sohn Baschar setzte mit der Machtübernahme die Ausbildung des Business Networks fort, das sein Vater begonnen hatte - mit einem neoliberalem Kurs, der nun sehr viel stärker auf den privaten Sektor baute. Daraus entstand eine neue urbane Business-Elite, begleitet wurde der Prozess von einer Verarmung größerer Bevölkerungsteile auf dem Land, die, um Jobs zu bekommen, an der Peripherie der Städte siedelten. Die Unterschiede zwischen Reicheren, die von Baschars Initiativen profitierten, und den Benachteiligten vergrößerten sich, die Unzufriedenheit war bereits Mitte der 2000er-Jahre nicht zu übersehen (Siedepunkt unbekannt).

Die Politik verstärkte den Nachdruck auf die städtische Entwicklung, meist auf Kosten der ländlichen Regionen; sie verstärkte den Anteil des Tourismus und des Dienstleistungssektors, zuungunsten von Investitionen in die Produktion oder in die Landwirtschaft. Dazu kamen Einsparungen, die es dem Stadt nicht erlaubten, die Ungleichheiten durch staatliche Jobs oder Ausbildungsangebote aufzufangen.

Anders als sein Vater Hafez in den wirtschaftlich guten 1970er Jahren konnte Baschar al-Assad das Wachstum in einzelnen Segmenten nicht dazu benutzen, um Geldflüsse an eine breite soziale Basis abzugeben. Seine dahingehenden Reformversprechen hielt er nicht ein oder er konnte sie nicht einhalten. Die Unzufriedenheit, genährt durch schlechte Aussichten auf eine Verbesserung der persönlichen Situation oder auf eine Teilhabe am politischen System, das auf Elitenherrschaft setzte, wurde durch die Auswirkungen der langen Dürre von 2006 bis 2010 verstärkt (Syrien, Wasser und Hunger).

Der Überwachungsstaat Syrien

Der Politikstil Assads war nicht gerade darauf angelegt, der Opposition mit großem Verständnis zu begegnen, das dokumentiert allein schon die Vielzahl an beschäftigten Geheimdienstlern, die der Bevölkerung genau auf die Finger schauten. Der Staat Assads war ein berüchtigter Überwachungsstaat, die dazu gehörigen Folterkammern nur dem ersichtlich, der in die verarmten heruntergekommenen Außenbezirke von Damaskus gelangte.

Wer bei all dem Fokus auf Waffenlieferungen, geopolitische Interessen und dem Hauptschlachtfeld der Dschihadisten ignoriere, dass der Krieg sich aus einem Aufstand gegen eine jahrzehntelange wirtschaftspolitische Verarmungspolitik einerseits und zementierte Günstlingspolitik anderseits entwickelt habe, werde keine Lösung für eine Zukunft Syriens finden, so die beiden Autoren.