Roma zwischen Segregation, Pogrom und Vertreibung

In vielen Ländern der europäischen "Wertegemeinschaft" gelten Roma inzwischen als Freiwild

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Ende Juni war es mal wieder soweit: Bei einer abermaligen Pressekonferenz zur europäischen Roma-Integration musste die EU-Kommission feststellen, dass es hierbei keinerlei nennenswerte Fortschritte gegeben hatte. Justizkommissarin Viviane Reding und Sozialkommissar Laszlo Andor forderten die Mitgliedsstaaten der EU auf, bei der Umsetzung der Strategien zur sozialen Inklusion der rund 10 bis 12 Millionen europäischer Sinti und Roma doch mal "einen Gang zuzulegen."

Auf diesem Politikfeld klaffe eine "riesige Lücke zwischen den Ankündigungen der Staaten und dem, was sie tatsächlich machen", klagte Reding. Sozialkommissar Andor beleuchtete die dramatische soziale Lage der europäischen Roma anhand einiger dürrer Zahlen: Rund 80 Prozent der Roma Europas lebten in Armut, nur 30 Prozent hätten Arbeit, jedes zweite Romakind sei von Vorschulbildung ausgeschlossen. Die Mitgliedsstaaten der EU müssten "mit Nachdruck dafür sorgen, dass die Roma tatsächlich den gleichen Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt haben", forderte Andor.

Dabei hat die Eurokrise gerade die massive Ausgrenzung der Roma aus Arbeitsmarkt und Bildungssektor befördert. In den vergangenen Jahren kann somit in vielen Ländern Europas gerade eine gegenläufige Tendenz zur verstärkten Exklusion dieser Minderheit konstatiert werden, die mit immer brutaleren Mitteln durchgesetzt wird. Amnesty International sprach beispielsweise ganz undiplomatisch von einem "totalen Verrat", den rumänische Behörden an den Roma in dem südosteuropäischen Land begingen. Rund zehn Prozent der 20 Millionen rumänischer Bürger sollen dieser Minderheit angehören. In den vergangenen Monaten häufen sich Berichte über Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen von Roma in Rumänien. Die Rumäninenexpertin von Amnesty International, Barbora Černušáková, erklärte hierzu:

Was wir im Rumänien des 21. Jahrhunderts sehen, ist die gezielte Vertreibung der verwundbarsten Gesellschaftsmitglieder, die unterhalb der Armutsgrenze leben und die unter inadäquaten Wohnungsverhältnissen leiden. Die gegenwärtige Wohnungsgesetzgebung erreicht nicht die internationalen Standards, denen sich die rumänische Regierung verpflichtet hat. Sie vermag es insbesondere nicht, das Recht auf adäquates Wohnen zu gewährleisten und Zwangsräumungen zu verhindern.

Rund 24 Stunden geben die rumänischen Behörden den betroffenen Roma, um ihre bisherigen Unterkünfte zu räumen, bevor deren Häuser mitsamt dem verbliebenen Inventar zerstört werden, berichtete etwa die polnische Gazeta Wyborcza. Viele der vertriebenen Roma erhalten keine Ersatzzimmer oder sonstigen Entschädigungen, sodass sie auf die Hilfe von Verwandten oder Bekannten angewiesen sind. Die Wyborcza berichtete von Fällen, in denen sich elf umgesiedelte Roma ein einzelnes Zimmer in einem Haus teilen müssen, das unmittelbar an einer Mülldeponie steht.

Rumänische Variante der Gentrifizierung

Neben der forcierten Stigmatisierung und Gettoisierung der Roma führen diese Vertreibungsaktionen auch zu einer weiteren Verschlechterung der sozialen Lage dieser Minderheit: Rund ein Drittel der von den Vertreibungen Betroffenen verliert seine Arbeitsstelle, da die neuen Behausungen sich zumeist an der Peripherie der Städte befinden und über eine schlechte Verkehrsanbindung verfügen. "Sie lassen uns auf den Müllhalden leben, als ob wir selber Müll wären", klagte eine Roma.

Die rumänischen Behörden bezeichnen diese Vertreibungsaktionen gerne als ein Programm zu "Revitalisierung" verarmter Stadtteile. Im Endeffekt fallen die Roma somit der rumänischen Variante der Gentrifizierung, der forcierten sozialen Spaltung der urbanen Lebensräume, zum Opfer. Die Roma-Gettos, die nun verstärkt am Rande der rumänischen Städte entstehen, sind Ausdruck dieser Tendenz zum räumlich-urbanen Ausschluss dieser ohnehin weitgehend ausgeschlossenen Minderheit.

Mitunter kann diese Tendenz zum Ausschluss, zur Isolierung der Roma, die Formen einer informellen Segregation, einer apartheidähnlichen Aufteilung öffentlicher Einrichtungen in Bereiche für Roma und für "Weiße" annehmen, wie sie die New York Times anhand einer slowakischen Grundschule beschrieb:

Alle Kinder auf dem asphaltierten Spielplatz waren weiß, eine auffallend monochrome Szene in einer Schule, in der die Mehrheit der Schüler Roma bilden. Die Roma waren … alle in einen separaten Spielplatz eingepfercht. Die Mittagszeit brachte den nächsten Schock. Die Schulkantine bediente nur weiße Kinder, während die Roma draußen bleiben und mit eingepackten Rationen vorlieb nehmen mussten, anstatt des warmen Essens. Die Schulklassen waren ebenfalls aufgeteilt, offiziell auf Basis der Lernbefähigung, aber im Endeffekt in einer Weise, die die Schüler rigide anhand ihrer ethnischen Zugehörigkeit gruppierte.

Diese Situation mitten im Europa des 21. Jahrhunderts erinnere an die Segregation zwischen Weißen und Schwarzen in den Vereinigten Staaten vor einem halben Jahrhundert, erklärte ein tschechischer Parlamentsabgeordneter gegenüber der New York Times. Ähnliche Tendenzen zur Segregation sind unter Anderem auch in Ungarn, wo eine neue Gesetzesinitiative die systematische Unterbringung von Roma in Sonderschulen begünstigen soll, sowie in Tschechien festzustellen. Trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2007, das diese Praxis als diskriminierend bezeichnete, befinden sich immer noch 26 Prozent aller Romakinder in der Tschechischen Republik in Sonderschulden, obwohl die Roma weniger als drei Prozent der Bevölkerung Tschechiens bilden. Zudem werden Roma immer noch in separaten Schulen isoliert.