Gesunde Lebensführung als Pflicht

Hinweise zu Mythen und Wirklichkeit der Gesundheitsprävention

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Gesund wollen alle sein, und wenn sie es gerade nicht sind, wollen sie es schnell wieder werden. Aber wie kann ihnen das Gesundheitssystem dabei helfen? Die Regierung hat vor, die Bevölkerung gesetzlich zu einer gesunden Lebensführung anzuhalten - mit fragwürdigen Maßnahmen und dubiosen politischen Zielen.

"Eine Solidargemeinschaft funktioniert nur, wenn der Einzelne tut, was er tun kann, um gesund zu bleiben." So begründete der Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) in einer Parlamentsdebatte im März, warum Deutschland seiner Ansicht nach ein "Gesetz für die Förderung der Prävention" braucht.

"Eigenverantwortung und Solidarität gehören zusammen." Damit brachte der Gesundheitsminister die Stoßrichtung des Gesetzentwurfs präzise zum Ausdruck. Solidarität gibt es nur im Austausch gegen verantwortliches Verhalten, das ist Tenor der Interviews mit dem Minister und den Presseerklärungen aus seinem Ministerium. Wer die Leistungen des Gesundheitswesens in Anspruch nimmt, soll gefälligst alles tun (Bahr: "was er kann"), um der "Solidargemeinschaft" nicht übermäßig hohe Kosten zu verursachen. Die Geduld der anderen Beitragszahler mit den Kranken hat anscheinend Grenzen. Solche öffentlichen Aussagen zeigen ein ziemlich autoritäres Verständnis. Andererseits klingt die Rhetorik der Gesundheitsprävention ganz harmlos und menschenfreundlich: Den Kleinen will man helfen, gesund aufzuwachsen, und den Alten, bis zu ihrem Ende selbstbestimmt zu bleiben. Wer kann etwas dagegen haben, Krankheiten und Leiden zu vermeiden? In Wirklichkeit zielt das Gesetz darauf, eine vermeintlich gesunde Lebensführung zur Pflicht zu machen - und es legt rechtliche Grundlagen, um in der Zukunft möglicherweise Leistungen des Gesundheitssystems zu verknappen.

Das Motto: Das Verhalten ändern statt der Verhältnisse

Im Zentrum des Präventionsgesetz stehen die Volkskrankheiten. "Risiken von Volkskrankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Depressionen können durch gesunde Ernährung und Bewegung reduziert werden", sagte Minister Daniel Bahr in der oben erwähnten Parlamentsdebatte. Das Gesetz soll aus diesem Grund die Früherkennung und Primärprävention stärken: Maßnahmen, die dazu taugen, den Ausbruch einer Krankheit zu verhindern oder sie wenigstens in einem frühen Stadium zu erkennen.

Bereits jetzt müssen die deutschen Krankenkassen laut dem Fünften Sozialgesetzbuch ihren gesunden Versicherten Angebote machen, "die den allgemeinen Gesundheitszustand verbessern". Konkret handelt es sich dabei zum Beispiel um Kochkurse, mit denen eine gesunde Ernährung gefördert wird, Kurse für die Entspannung und sportliche Aktivitäten oder auch Hilfen bei der Rauchentwöhnung. Bisher mussten sie für solche Maßnahmen knapp drei Euro pro Versicherten ausgeben. Dieser Beitrag soll nun verdoppelt werden. Die privaten Kassen dagegen werden nach dem Willen des Gesetzgebers nichts zur Prävention beitragen.

Das Urteil von Experten zu dem Gesetz war einigermaßen verheerend. Die Deutsche Gesellschaft für Public Health (DGPH) kommentiert, das Gesetz zeige "eine veraltete Perspektive, die nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht". Das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) glaubt, das Gesetz entspräche "nicht dem wissenschaftlichen Diskussionsstand". Der Paritätische Wohlfahrtsverband sprach von einer "verengten Vorstellung von Prävention".

Allesamt kritisieren diese Organisationen, dass der Gesetzentwurf ausschließlich auf die sogenannte Verhaltensprävention setzt. Ziel ist, dass die Menschen sich gesund ernähren, Sport treiben, mit ihren Kräften haushalten, kurz: ihren Lebensstil ändern.

Davon zu unterscheiden ist die Verhältnisprävention, die darauf abzielt, krankmachende (pathogene) Einflüsse gesellschaftlich zurückzudrängen. Zur Vorbeugung durch andere Verhältnisse gehören ganz unterschiedliche Maßnahmen, beispielsweise das Verbot bestimmter Chemikalien in Lebensmitteln, Impfungen oder Regeln für den Arbeitsschutz.