"Das Politische und das Sexuelle sind Bettgenossen überall auf der Welt"

Shereen El Feki über Sex in der sich im Umbruch befindlichen arabischen Welt

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Shereen El Feki hat zu den Recherchen ihres Buches Sex und die Zitadelle. Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt mit Sexualtherapeuten, Medizinern, Prostituierten, Scheichs, missbrauchten Ehefrauen und verunsicherten Ehemänner vor allem in Ägypten gesprochen, die ihr über das Liebesleben in vom Islam geprägten Gemeinschaften berichteten, die sich jetzt nach der "Arabellion" zu ändern beginnen. Telepolis sprach mit der Autorin.

Frau El Feki, inwiefern ist der Sex ein Schlüssel zur Demokratie in arabischen Ländern?

Shereen El Feki: Sexuelle Rechte sind ein wichtiger Bestandteil der Menschenrechte. Wenn man die Freiheit und das Menschsein der Anderen respektieren möchte, sind sie keine beliebigen Ansprüche, die man akzeptieren kann oder auch nicht. Praktisch bedeuten sie den freien Zugang zu gynäkologischer Versorgung und die Freiheit, Ideen über Sexualität zu entwickeln und Informationen darüber auszutauschen.

Es ist das Recht, sich seinen Partner auszusuchen und über seine sexuelle Aktivitäten selbst zu bestimmen. Es ist die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob und wann man Kinder haben möchte, und das Recht, über den eigenen Körper selbst zu verfügen. Das alles bedeutet die Möglichkeit, ein befriedigendes, sicheres und erfülltes Sex-Leben anstreben zu können.

Die Betätigung des "sexuellen Bürgerrechts" - also die Macht zu haben, hier eigene Entscheidungen zu fällen und von den staatlichen Institutionen fordern zu können, ihre Verantwortung ohne Ansehung von Ethnie, Klassenzugehörigkeit, Herkunft, Geschlecht und sexueller Orientierung auszuüben - stellt mehr dar als nur den Abglanz des demokratischen Systems. Es ist ein Mittel, dafür erst das Fundament zu schaffen, indem man diese Prinzipien im Kern des Menschseins verankert, wo sie sich dann in anderen Bereichen ausbreiten können.

Sind aber sexuelle Rechte nicht ein Minenfeld in der arabischen Welt?

Shereen El Feki: Für viele sind sie Ausdruck westlicher Dekadenz, also von Homosexualität, freier Liebe, Prostitution und Pornographie, welche den Islam und "traditionelle" arabische Werte zu untergraben drohen. Solange wir aber Freiheit, Gerechtigkeit, Würde, Gleichheit sowie das Recht auf Privatheit und Unabhängigkeit im Privatleben nicht verankern können, werden wir auf enorme Schwierigkeiten treffen, diese auch im öffentlichen Leben zu durchzusetzen. Das Politische und das Sexuelle sind also gewissermaßen Bettgenossen überall auf der Welt.

"Eine wachsende Anzahl von Männern steht den Frauen bei"

Haben die Ereignisse auf dem Tahirplatz vor zwei Jahren bereits eine Änderung des Geschlechtsverhaltens herbeigeführt?

Shereen El Feki: Es ist noch zu früh, um etwas Definitives darüber sagen zu können. Viele Frauen haben seit 2011 einen Rückgang ihrer persönlichen Sicherheit beobachtet; nach einer aktuellen UN-Umfrage sind neunundneunzig Prozent der ägyptischen Frauen schon einmal sexuell belästigt worden und fast 50 Prozent der Frauen behaupten, dass der Grad an sexueller Belästigung seit den Aufständen zugenommen hat. Dass aber dergleichen mittlerweile überhaupt ein Thema ist, ist ein Zeichen, dass die Frauen in Ägypten und überhaupt in der arabischen Region nicht mehr länger gewillt sind, solche Zustände weiter zu dulden. Sie setzen sich jetzt für ihre politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte ein.

Dieser Kampf hat an Boden gewonnen, weil die politisch Konservativen - besonders die Muslimbrüder und die Salafisten in Ägypten - darum kämpfen, ihren Einfluss weiter auszubauen, was Frauen-Gruppen wiederum dazu nötigt, sich gegen deren restriktive Interpretation des Islam in Sachen Geschlecht und sexueller Rechte zur Wehr zu setzen. Und eine wachsende Anzahl von Männern - speziell jüngere Männer - steht den Frauen in diesem Kampf bei. Wir befinden uns hier noch in einem recht frühen Stadium, aber es entwickeln sich immer mehr Möglichkeiten für Gedanken- und Redefreiheit und zwar auf allen Gebieten.

Es existieren hier gleichzeitig aber immer noch scharf gezogene Grenzen, wie die Fälle von zwei ägyptischen Femen-Aktivistinnen, nämlich Alia El Mahdy und Amina Snousi zeigen, die wegen ihrer Nackt-Proteste Todesdrohungen erhalten haben. Bis es also zu echten politischen, wirtschaftlichen und wirklich aufklärerischen Reformen kommt, werden die patriarchalischen Zustände weiter die Beziehungen zwischen den Geschlechtern belasten.

Shereen El Feki. Foto: Kristof Arasim

Sie schreiben, dass für den Islam durchaus auch eine positive Haltung zur Sexualität charakteristisch sei. Können Sie diese Haltung näher ausführen?

Shereen El Feki: Der Islam ist nicht gegen Sex. Weit davon entfernt, erkennt er die Kraft der Sexualität an, will diese aber in bestimmte Strukturen bringen - eine davon ist die Heirat. Innerhalb der Ehe gibt es durchaus islamische Empathien für das sexuelle Vergnügen, außerhalb davon wird aber Sex missbilligt. Das beinhaltet voreheliche Beziehungen, Sex-Arbeit und Homosexualität. Dies existiert zwar auch, aber die Gesellschaft stellt sich hierfür bestenfalls blind.

"Jüngere Leute behaupten, dass eine arrangierte Ehe besser sei"

Wie hoch schätzen Sie den Anteil von arrangierten Ehen in Ägypten und wie wirkt sich diese Praxis auf das Zusammenleben von Männern und Frauen aus?

Shereen El Feki: "Arrangierte" Ehen wie zu meines Großvaters Tagen sind in Ägypten heutzutage weniger häufig. Nach einer Umfrage aus dem Jahr 2009 hat rund ein Drittel der jungen Leute den Ehepartner durch ein Familienmitglied kennen gelernt und fünfzig Prozent der Frauen (variierend nach Alter, Erziehung und Wohlstand) haben angegeben, dass ihre Familie bei Heiraten das letzte Wort hatte.

Wir haben kein wirklich robustes empirisches Material, wie sich arrangierte Ehen im Vergleich zu "love stories" - so bezeichnet man in Ägypten nicht arrangierte Ehen - im Alltag bewähren. Einige jüngere Leute - besonders junge Frauen, die ich getroffen habe - behaupten, dass eine arrangierte Ehe besser sei, weil man den angehenden Ehepartner kennt und es größere Unterstützung von Seiten der Familien gibt, die auch intervenieren, wenn eine Ehe scheitert, was zunehmend der Fall ist, wie der extrem hohe Anstieg der Scheidungsraten in der Golf-Region zeigt.

"Wir besitzen leider keine genauen Statistiken"

Hat ihrer Einschätzung nach der hohe Anteil von sexueller Gewalt dort etwas mit den Islam zu tun?

Shereen El Feki: Nach einer aktuellen Studie der Welt-Gesundheits-Organisation haben 37 Prozent in verschiedenen arabischen Ländern häusliche Gewalt einschließlich sexueller Gewalt erlebt. Dieser Grad von Gewalt ist somit ähnlich weit verbreitet wie im gesamten globalen Süden. Wir besitzen leider keine genauen Statistiken über die sexuelle Gewalt in der arabischen Region, sondern kennen sie nur aus den Erzählungen der Betroffenen.

Wo patriarchalische Strukturen immer noch stark ausgeprägt und Frauen entrechtet sind, sich Männer bedroht fühlen und Sex mit Schande verbunden ist, wird man immer auch sexuelle Gewalt finden - traurigerweise eine Kombination, die sich nicht auf die arabische Region beschränken läßt.