Von Fischtreppen, US-Sozialismus und einem verbreiteten Irrglauben

Bild: R. Stumberger

Auf der Suche nach Amerika III

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Beim Bonneville-Damm, der sich von Oregon bis Washington über den mächtigen Columbia River spannt, kann man den Fischen bei der Arbeit zusehen. Denn bei der Fischtreppe haben sie unterirdisch einige Glasfenster eingebaut - und so können die Besucher beobachten, wie all die Lachse sich abmühen, um gegen den Wasserlauf stromaufwärts zu schwimmen. Das ist richtige Arbeit und die Fische hängen nicht so träge rum wie in den Aquarien. Wenn sie ganz nahe an die Scheibe kommen, leuchten sie geradezu und das sieht toll aus.

Natürlich ist der Bonneville-Damm nicht dazu da, Fische zu ärgern, sondern Strom zu produzieren. An die sieben Cent kostet die Kilowattstunde Strom den Verbrauer, sagt jedenfalls Ranger Patrick Berry, der für die Besucher des Kraftwerks zuständig ist (zum Vergleich: In München zahlt man dafür rund 25 Cent).

Der günstige Preis kommt daher, dass die Energie zum Selbstkostenpreis abgegeben wird. Denn der Bonneville-Damm entstammt der quasi "sozialistischen" Epoche in den USA, als der Staat die in der Krise versunkene kapitalistische Wirtschaft durch seine massiven Investitionen wieder zusammenflickte. Das war im Zuge des "New Deal" der 1930er Jahre, die Antwort der USA auf die Weltwirtschaftskrise von 1929. In Deutschland machte es Kanzler Heinrich Brüning bis 1932 bekannterweise genau andersherum und sparte auf Teufel komm raus. Das geschah ja dann auch in Gestalt der Nationalsozialisten.

Der Bonneville-Damm jedenfalls wurde wie die anderen elf Kraftwerke entlang des Columbia-River mit Staatsmitteln gebaut, so wie unzählige Brücken, Flughäfen, Straßen oder Gebäude. Mit dem WPA-Programm (Works Progress Administration - was sich ungefähr und sehr frei mit "Arbeitsförderung" übersetzen lässt) wurden Millionen von Arbeitslosen auf staatliche Kosten beschäftigt, mit einem speziellen Programm für Künstler entstanden unter anderem große Wandgemälde an öffentlichen Gebäuden.

So war das mit der gigantischen staatlichen Investition, die die Wirtschaft ankurbelte und das Gesicht Amerikas über diese Bauten und durch diese Infrastruktureinrichtungen nachhaltig prägte.

Heute allerdings hat es die Politik geschafft, Steuern als Belästigung für den Bürger hinzustellen und seit Ronald Reagan gilt für die Konservativen, der Staat solle sich doch bitte zurückziehen und nur die notwendigen Aufgaben übernehmen.

Jetzt ist es so, dass man, wenn man zum Beispiel durch South Dakota fährt, diese Idee vom Rückzug des Staates durchaus für plausibel halten kann. South Dakota besteht vor allem aus unendlicher Prärie und man kann sich anhand der alten Western-Städte durchaus vorstellen, wie hier - die Regierung in Washington sehr weit weg - die Bürger es selbst angepackt haben, sich und ihr Leben und ihre Angelegenheiten zu organisieren. 800.000 Einwohner zählt der ganze Bundesstaat und in der Hauptstadt Pierre leben gerade mal 14.000 Menschen. Das dortige Capitol - also das Parlament - ist öffentlich zugänglich, ohne Personenkontrolle oder dergleichen Sicherheitsmaßnahmen.

"Wir liefern weltweit in 30 Minuten oder weniger"

Man könnte es also glauben, dass es den Leuten in South Dakota gut geht ohne den Staat. Das aber ist ein großer Irrtum. Denn der Staat und die Steuergelder stecken eher unsichtbar im Boden von South Dakota: In mehr als einhundert unterirdischen Atomraketen-Silos mit ihren Kommandoständen (die inzwischen stillgelegt wurden). Hier in South Dakota war eines der Raketenzentren der USA, die im Kalten Krieg für das Gleichgewicht des Schreckens sorgten. Einmal abgefeuert, erreichten die Minuteman-Raketen mit ihren atomaren Gefechtsköpfen innerhalb von 30 Minuten ihre Ziele in der damaligen Sowjetunion.

Ich fahre mir Ranger Butch Davis auf einer unbefestigten Straße hinaus in die weite Ebene der Prärie. Schließlich erreichen wir ein einsam liegendes, flaches Gebäude, umzäunt mit Stacheldraht - hier befindet sich im Untergrund verborgen Delta-01, eines der ehemaligen Kontrollzentren. Das Gebäude an der Oberfläche beherbergte die Versorgungseinrichtung - Stromgeneratoren, eine Küche, Schlafräume, ein Aufenthaltsraum mit Fernseher, die Wache und die Kommunikationsapparate. In dieser Baracke schob die Mannschaft ihren Dienst: die acht Männer der Raketensquadron - Offiziere der US-Airforce -, das Wachpersonal, der Koch und die für die Versorgung Zuständigen. Eine Schicht dauerte drei Tage. Achtmal pro Monat rückten die Bunkerbesatzungen zu einer dieser Schichten aus.

TRainingsrakete Minuteman II in Delta-09. Bild: nps.gov

Der eigentliche Kontrollraum aber liegt rund zehn Meter unter der Erde, eine durch Schockabsorber abgefederte Metallkapsel in einer 18 Meter langen Betonschale mit einem Durchmesser von rund zehn Metern, dafür ausgelegt, auch eine Atomexplosion zu überstehen. Ranger Butch öffnet mit seinem Schlüssel das Scherengitter des Aufzugs und mit ihm fahren wir summend hinab in die Tiefe. Ein Vorraum führt zu dem eigentlichen Bunker, die letzte Besatzung hat sich hier mit einem Wandgemälde verewigt: Es zeigt eine amerikanische Rakete, die eine Sowjetfahne zerfetzt. Auch das acht Tonnen schwere stählerne Bunkerschott ist auf einer Seite bemalt: "Wir liefern weltweit in 30 Minuten oder weniger", steht da geschrieben.

1962, auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise, wurden die ersten Minuteman-Raketen in Montana aufgestellt. Als Feststoffrakete war sie wesentlich einfacher zu handhaben als die flüssigkeitsgetriebenen Raketen. Bis 1967 wurden in den Prairiestaaten Montana, Wyoming, South Dakota und North Dakota rund 1000 Minuteman-Interkontinentalraketen stationiert, die von 100 Befehlsbunkern (wie Delta-01) kontrolliert wurden. Die 150 Raketen in South Dakota waren über eine Fläche von 35.000 Quadratkilometern verteilt. Wohl nur die wenigsten Touristen, die zu den beliebten Reisezielen wie den Badlands und Mt. Rushmour (den Präsidentenköpfen in Stein) fuhren, ahnten, was links und rechts der Highway im Boden verborgen war.

Es waren Milliarden an Steuergeldern, die im Boden verbaut wurden und seit den 1960er Jahren für Arbeitsplätze, Löhne und Wohlstand sorgten. Wenn heute an der Autobahnstelle zu lesen ist: "Hier sehen Sie ihre Steuern am Arbeiten", dann ist das eine kläglich anmutende Rechtfertigung, betrachtet man die Abermilliarden an Steuergeldern, die in den USA für das Atomprogramm und das Wettrüsten ausgegeben wurden. Es übertraf die Ausgaben des als "sozialistisch" verschrienen New Deal bei weitem, ein gigantisches Investitionsprogramm für die amerikanische Wirtschaft, das natürlich nicht zuletzt dem militärisch-industriellen Komplex zugute kam.

Wenn heute also die Konservativen durch die Prärien des Mittleren Westens reiten und mit ihren Cowboyhüten den Staat verscheuchen wollen, dann gilt das vor allem für den Staat des Sozialen. Den Staat, der Milliarden in die Rüstung steckt - nach dem Kampf gegen den Kommunismus jetzt im Kampf gegen den Terrorismus -, den wollen sie schon.