"Wer wollte, hätte es wissen können"

Der deutsche Sport ist ganz und gar nicht sauber. Aber was folgt daraus?

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"Überall, wo im Sport Geld verdient wird, wird versucht, die Schiedsrichter zu bestechen und an die besten Dopingmittel zu kommen". Die Aussage eines Gewichthebers, der in früheren Jahrzehnten aNNinternationalen Wettkämpfen teilnahm, wird im Privatgespräch mit einem Lachen beantwortet. Weil ausgesprochen wird, was jeder im Grunde schon lange ahnt. Und nicht erst seit den Tour- de-France-Enthüllungen und dem aktuellen Enthüllungen zum Doping in Deutschland. Wenn es um Spitzenathleten geht, etwa Usain Bolt, nimmt im privaten Kreis kaum einer die Sauberkeitsbekundung des Sportlers und der Funktionäre für bare Münze. Doch was folgt daraus?

Seit Samstag weiß die Öffentlichkeit, dass der westdeutsche Sport längst nicht so sauber war, wie dies Politiker, Funktionäre und Sportler in Abgrenzung zu den Athleten aus dem "Ostblock" immer behaupteten. Wer in den siebzigern-und achtziger Jahren Sportsendungen verfolgte, der hat noch im Ohr, wie bei Leichtathletikwettbewerben, bei Schwimmwettkämpfen und beim Gewichtheben stets auf das Doping der "Staatssportler" aus der UdSSR und der DDR hingewiesen wurde.

Der außerordentlich muskulöse Körperbau, die männlichen Stimmen der Athletinnen, der Ansatz zum Bartwuchs bei manchen Sportlerinnen waren allesamt optische Unterlegungen für das Mantra der systematisch, mit unerlaubten Mitteln hochgezüchteten Ostblockathleten, Roboter eines Systems, dem der gute, meist bessere Platz, im Medaillenspiegel mehr wert war als die Gesundheit des Einzelnen.

Für alle diejenigen, die an den sauberen Sport auf der hiesigen Seite des eisernen Vorhangs geglaubt haben, räumt die BISp-Studie "Doping in Deutschland von 1950 bis heute aus historisch-soziologischer Sicht im Kontext ethischer Legitimation" mit lange Zeit ruhenden Illusionen auf. Die Studie einer Historiker- und Soziologengruppe berichtet von systematischen Doping seit dem ersten Nachkriegsjahrzehnt, finanziell und personell gefördert vom Innenministerium.

Rigoros und systematisch ist demnach in der Bundesrepublik seit den Siebzigern anwendungsorientierte Dopingforschung betrieben worden. Das Gerede von der internationalen Chancengleichheit, so die Autoren, habe dabei dazu gedient, einen letztlich inhumanen Leistungsdruck auf die Athleten zu legitimieren; viele Sportler hätten sich "um ihrer Endkampfchance willen in den 80er Jahren in manchen Disziplinen gezwungen (gesehen), zu dopen"

"Zweckentfremdung, Irreführung, Betrug", Süddeutsche Zeitung

Selbst wenn es manche schon immer gewusst haben wollen, ist das ein Schlag vor den Kopf, weil - erneut - vor Augen führt wird, wie sehr die Öffentlichkeit mit ideologisch gestrickten Schwarz-Weißbildern zum Narren gehalten werden kann.

Zu spüren ist die politische Brisanz etwa in der Aussage des Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB), Michael Vesper, der sich "gegen platte Gleichsetzungen des Dopings in Ost und West, die einer wissenschaftlich belegten Grundlage entbehren", wehrt.

Ein andere Gleichsetzung, die sich aus den Enthüllungen ergibt, ist vielleicht die schlimmere: Dass Politiker in etwa so glaubwürdig sind wie Sportler, die behaupten, dass sie nicht dopen. Man hat sich daran gewöhnt, aber wie steht es um ein Gesellschaftsssystem, in dem Öffentlichkeitsdarstellungen nur mehr mit Misstrauen entgegengenommen werden?

Namen ausgelassen - aus Datenschutzgründen

Auf das Drängen nach Veröffentlichung der Studie, antwortete man schließlich mit der Publikation auf der Webseite. Doch fehlen Namen von Ärzten, Funktionären, Sportlern, Politikern, die in die Dopinggeschichte verwickelt sind.

Aus Datenschutzgründen wurde die Publikation zunächst aufgeschoben, obwohl die Studie mit über 500.000 Euro öffentlicher Gelder finanziert war. Jetzt gibt es sie nur bereinigt, weil das Innenministerium nicht für den Rechtschutz von Personen garantieren wollte, die heute noch tätig sind und Konsequenzen für ihre Berufsleben befürchten. Die Geheimniskrämerei geht weiter.

Der Bericht sei dominiert "von Auslassungen und Platzhaltern wie N.N.", wird die Vorsitzende des Sportausschusses im Bundestag, Dagmar Freitag (SPD), heute zitiert. Das Datenschutzargument zählt ihrer Meinung nach nicht. In einem Rechtsstaat gelten gleiche Maßstäbe: "Diese Argumentation hat man sich ja auch nicht bei der Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen zu eigen gemacht."

Tricks und Vorbeischauen

Doch auch ohne Namen wird dem Leser vor Augen geführt, mit welchen Sprachregelungstricks das Doping als irgendwie legitim hingestellt wurde.

Über seinen Bundesausschuss Leistungssport, zuständig für die Trainingssteuerung, provozierte der Westsport eine Überlastung der Top-Athleten (in den Studien "Übertraining" genannt) - die dann als Rechtfertigung für einen unterstützenden Medikamentengebrauch bis hin zur Verwendung der anabolen Ursubstanz Testosteron missbraucht wurden.

Süddeutsche Zeitung

Das entspricht nicht gerade der viel gehörten Bekundung "Der deutsche Sport ist sauber". Irritierend ist die Äußerung der Doppelolympiasiegerin von 1972, Heide Ecker-Rosendahl: "Ich habe nie von systematischem Doping in meiner Zeit gehört." Man habe "munkeln gehört, dass es irgendetwas gibt - da gab es die Skandale schon damals um die Radfahrer - aber wenn man etwas nicht weiß, heißt es ja nicht, dass es das nicht gegeben hat."

Heißt das, dass Doping doch nicht so weit verbreitet war, wie es der Bericht nahelegt? Oder gibt es eine Haltung, die sich blind stellen will, wie dies die Äußerungen ihrer damaligen deutschen Weitsprungrivalin Schüller nahelegen, die behauptet, dass sie mit einem Schulterzucken reagiert habe, "weil es mich nicht mehr aufgeregt hat. Es ist doch fast schon lächerlich, wie lange alle Veröffentlichungen verhindert wurden." Nach ihrer Auffassung gilt:

"Wer wollte, hätte es wissen können."

Was ist mit diesem Wissen, das nun an die größere Öffentlichkeit drängt, anzufangen? Doping erlauben, um dem zwielichten Spiel mit der Glaubwürdigkeit den Kern zu nehmen? Allerdings hat sich Doping in vielen Fällen als gesundheitsgefährdend und sogar tödlich erwiesen. Ein Limit festsetzen? Das würde allerdings weiter mit dem Grenze zwischen "erlaubt" und "verboten" spielen, mit den bekannten Konsequenzen. Härtere Strafen für Dopingssünder? Wie aber ist das faktisch durchzusetzen, wenn die Staaten selbst darin verstrickt sind?