Auferstehung von den Toten

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Gore Verbinski und Johnny Depp erwecken "Lone Ranger" als hochunterhaltsame, brandaktuelle Zirkusshow zum Leben

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Ein maskierter Mann und ein Indianer reiten durch den Wilden Westen und jagen Schurken - das ist die Ausgangslage für Lone Ranger, den neuesten Film des "Fluch der Karibik"-Erfolgstrios Gore Verbinski, Jerry Bruckheimer und Johnny Depp. In den USA gefloppt, ist diese auf einer berühmten 1940er und 1950er-Jahre-Radioshow basierende Western-Travestie ein ziemlich unterhaltsamer, überbordender Sommerblockbuster mit Tiefgang und Bedeutung. Da das Böse hier in Form eines Bündnisses aus Gesetz, Mördern und dem militärisch-industriellen Komplex des Wilden Westens - Eisenbahn und US-Kavallerie - auftritt, fügt sich der Film zum Gesamtbild einer erstaunlich expliziten und kompromisslosen Kritik an den politischen Mythen Amerikas.

Totgesagte leben länger. Das bewiesen Johnny Depp und Gore Verbinski schon vor zehn Jahren, als sie mit "Piraten der Karibik" das von Hollywood-Studios längst aufgegebene Genre des Piratenfilms wiederbelebten. Über 30 Jahre hatte es nur spektakuläre Reinfälle gegeben, doch "Pirates of the Caribbean" wurde ein Welterfolg und inspirierte mittlerweile drei Fortsetzungen.

Depp, nicht nur der bestbezahlte, sondern einer der kreativsten unter allen Superstars der US-Filmbranche, der längst seine Filme auch mitproduziert, und Verbinski, ein immer noch junger, sehr kreativer Kopf, der die Filmindustrie nicht nur als Gelddruckmaschine begreift, sondern auch als Apparat, um kreativ zu erzählen und Neues zu schaffen, wissen, dass Kino dann am besten ist, wenn es gelingt, Popkultur und Klassik zu verbinden, und so die Mythologie eines Zeitalters zu kreieren - ein Unterfangen, das immer nur durch Rückgriff auf die Tradition funktioniert.

Den Piratenfilm eben oder den Gothic-Horror der schwarzen Romantik, in Depps vielen Filmen mit Tim Burton. Mit "Lone Ranger" versuchen sie nun gemeinsam mit dem berühmt berüchtigten Produzenten Jerry Bruckheimer ("Pearl Harbour"; "Pirates of the Carribbean") das nächste Genre von den Toten aufzuwecken: Den Western.

"Time comes, when good man must wear mask"

Nicht zufällig gehen sie dabei - und das erinnert stark an "Oz", der gerade erst im Kino lief, und an den spanischen Film "Blancanieves", wo die Schneewittchen-Geschichte ins Stierkampfmilieu versetzt ist und man am Ende dann doch in den Jahrmarktsbuden landet - zurück zu den Ursprüngen des Kinos in fahrenden Jahrmarktsbuden. Dort geht es los, in den 1930er Jahren - "San Francisco 1933" - mit den Cowboyträumen eines kleinen Jungen.

Und nicht zufällig läuft er in ein Museum, wo "Wild West as it really was" versprochen wird, und im Panorama als lebensgroße Figur "die Wilden" ausgestellt werden, Amerikas Indianer - "The wild savage in its natural habit". Wie von Zauberhand wird einer von ihnen zum Leben erweckt, und nachdem der Junge, ein Stellvertreter der Zuschauers, erstmal sehr schnell drauflosballert - einer von vielen entsprechenden Witzen Verbinskis - ist es dann die von Johnny Depp gespielte Figur des Komantschen Tonto, die den Jungen nun, weiterhin stellvertretend fürs Kinopublikum, in die eigentliche Handlungszeit der 1870er-Jahre führt: Die Zeit der letzten Indianerkriege, des Eisenbahnbaus, der auch moralischen und politischen Zivilisierung des westlichen Nordamerika.

So umständlich dieser fünfminütige Auftakt ist, so virtuos geht es nun weiter: Mit Schießereien, einem Bankraub, einem Zugüberfall und der Einführung der wesentlichen Figuren im Minutentakt. Ein sehr lustiges Chaos, dessen Grundkonstellation aber schnell klar ist: Der weiße Staatsanwalt John (Armie Hammer), ein Mann, der John Locke liest und den Prebytarians die "Two Treatises of Government" mit der Bemerkung "This is my bible" hinhält, und der Indianer Tonto (Johnny Depp) sind irgendwo in Texas hinter der gleichen Räuberbande her.

Deren brutaler Anführer Butch Cavendish ist ein Sadist, aber doch gerade als Outlaw auch ein Inbegriff Amerikas, und als noch größerer Schurke entpuppt sich bald aber der anfangs nur undurchsichtige Eisenbahn-Tycoon Latham Cole (Tom Wilkinson). Als Johns Bruder von Cavendish brutal ermordet wird, und er selbst nur überlebt, weil man ihn für tot hält - auch dies eine Auferstehung von den Toten - , verwandelt er sich in den maskierten Gerechtigkeitskämpfer Lone Ranger, eine Art Batman des Wilden Westens, und beginnt, die wahren Verbrecher zu jagen: "Wenn Männer wie diese das Gesetz repräsentieren, dann gibt es keine Gerechtigkeit. Dann bevorzuge ich, außerhalb des Gesetzes zu stehen." ("I prefer to be outlaw.") Und Tonto ergänzt: "Time comes, when good man must wear mask."

Anarchie und Freiheit

Diese Figur des "Lone Ranger" ist eine Ikone der US-Popkultur. Zwischen 1933 und 1954 brachte sie es als Radioserie auf unglaubliche 2.956 Episoden und schuf prägend Kindheitserlebnisse für eine ganze Generation von US-Jugendlichen. Zwischen 1949 und 1957 war sie auch als TV-Reihe erfolgreich, es gab zwei Filme und eine Comic-Folgen.

Verbinskis/Depps "Lone Ranger" ist demgegenüber etwas völlig anderes, eine zugleich hochunterhaltsame, spektakuläre Zirkusshow und ein brandaktueller Blick auf den Western und Amerika. Denn sie zeigen: Der Western ist nicht nur reaktionärer Männermythos, in dem die geistigen Nachfolger John Waynes sich an richtigem Mannsein und ihrer Vorstellung alttestamentarischer Gerechtigkeit ergötzen dürfen. Er ist auch Anarchie und Freiheit, ja Befreiung. Denn wenn dieser Film etwas ist, dann ist er Witz und Unterhaltung und darunter dann überraschender Ernst.

Denn dieser Film zeigt ernst, brutal, hart, die Praxis der Ausbeutung, zeigt, wie die selbsternannten Bürger von "Gottes eigenem Land" die Indianer fertiggemacht haben, zeigt eine "Eroberung" des Westens, die ganz wörtlich zu begreifen ist, als brutale Landnahme, bei der neben den Indianern auch viele Weiße unter die Räder kamen, bei der chinesischen Zwangsarbeiter ausgenutzt wurden, und ein militärisch-industrieller Komplex aus Eisenbahn und Kavallerie ein autoritäres Regime führt - die Kritik am heutigen Amerika ist kaum subtil versteckt.

Die tiefreichende Irritation Amerikas an sich selbst

Stellenweise ist dies ein ungemein expliziter, brutaler Film, in dem Menschenfleisch gegessen wird, gefoltert, hundertfach gemordet. Auch in seinen zwei traumatisierten Helden und ihren Rachephantasien ist dies ein gegen sich selbst gedrehter Western, eine Wiedergutmachung an den Indianern und den Chinesen, dann wieder voller Slapstick und operettenhafter Albernheit. Humor und Tristsse gehen nicht immer gut zusammen; manchmal ist alles ein bisschen lahm, manchmal ein bisschen sehr viel Mischmasch. Aber stellenweise ist der Film sehr gut.

Zweierlei Einsichten drängen sich auf: Amerika sehnt sich ungemein nach Naivität. Nach Unschuld. Darum dieser immer wieder aufkommende Rückgriff auf die frühe Kinogeschichte. Die zweite, noch wichtigere generelle Tendenz des Hollywoodkinos, die in diesem Film sehr auffällig wird, ist, wie sich die Selbstzweifel und tiefreichende Irritation Amerikas an sich selbst, wie sich das Schalwerden des American Dream in den Mainstream einschleichen.

Wie zuletzt bereits Zal Batmanglijs "The East" und Robert Redfords "The Company you keep" gehört auch dieser Film in die inzwischen schon längere Reihe von neueren US-Filmen mit "revisionistischer" Agenda. Auch "World War Z" mit seiner Staatskritik und Tarantinos "Django Unchained" mit einem überraschend ungeschönten Blick auf die Sklavenwirtschaft der Südstaaten fügen sich ins Gesamtbild einer erstaunlich expliziten und kompromisslosen Kritik an den politischen Mythen Amerikas.

Buster Keaton meets Sergio Leone

So ist "Lone Ranger" ein Mix aus Operette und Tragödie, ein Film, der 3-D nicht braucht, um interessant zu sein, der alles hat, was das Kino braucht: Helden, viel Witz, viel Ernst, großen Unterhaltungsfaktor und uns wie nebenbei an die Frühzeit des Kinos mit seinem Slapstick und Abenteuer erinnert, uns wunderbare Klassiker ins Gedächtnis ruft, von Buster Keatons "Der General" über "Der Große Eisenbahnraub" und Sergio Leones "Es war einmal im Wilden Westen" bis zu Arthur Penns revisionistischem Western "Little Big Man", der im Vernichtungskrieg gegen die Indianer das Schicksal Vietnams spiegelt - so wie man diesen Film kaum ansehen kann, ohne an Afghanistan, Abu Ghraib und NSA zu denken. Ein (Kino-)Wunder, dass "Lone Ranger" trotzdem Spaß macht.

Und, ob das nun der größte Flop des Sommers ist, ein Blockbusterdesaster, bei dem 250 Disney-Millionen versenkt wurden, kann uns allen doch letztendlich egal sein. Er hat es schwer an den den Kinokassen, auch, trotz allem an unseren, ja - aber dieser Film wird in 20, 30 Jahren Kultstatus besitzen, als "seinerzeit missverstanden" beurteilt, als "unterschätzt". Jede Wette.