Italien: Mafia-Familien wird der Nachwuchs weggenommen

Die neue Strategie soll Dynastien unterbrechen und Kindern eine Chance auf ein Leben außerhalb der Organisierten Kriminalität geben

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Der kalabrische Jugendgerichtspräsident Roberto di Bella hat eine neue Strategie gegen die 'Ndrangheta entwickelt, die seine Region seit Mitte des 19. Jahrhunderts terrorisiert: Er nimmt Familien, die im Verdacht stehen, der Mafia anzugehören oder ihr positiv gegenüberzustehen, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit die Kinder weg. Zweck dieser Maßnahmen ist nicht die Abschreckung von Eltern, die bereits hoffnungslos in dem kriminellen Netzwerk gefangen sind, sondern der Schutz der Söhne und Töchter, die eine Chance bekommen sollen, sich für ein anderes Leben als das von der Familie vorbestimmte zu entscheiden.

Als Beleg dafür, dass so etwas möglich ist, verweist di Bella auf einen Sechzehnjährigen, der nach Mailand ging und alle Kontakte zu seiner Familie radikal abbrach, als er von der Mutter vor die Wahl gestellt wurde, sich für die bürgerliche Gesellschaft oder die 'Ndrangheta zu entscheiden, und den Posten des erschossenen Vaters einzunehmen. Di Bella der in seinem neuen Programm eng mit Sozialarbeitern, Jugendämtern und anderen Stellen zusammenarbeitet, sorgte dafür, dass der Junge in Norditalien eine Arbeitsstelle und andere Hilfen beim Aufbau eines unabhängigen Lebens vermittelt bekam.

Kalabrien. Foto: NASA.

Bislang wurden im Rahmen der neuen Strategie 15 Minderjährige an Kinder- und Jugendheime überstellt, in denen sie ihre Eltern nur alle paar Wochen sehen. Dort soll ihnen eine gewisse "kulturelle Immunität" vermittelt werden, die ihnen die Chance gibt, beim Erreichen der Volljährigkeit, frei darüber zu entscheiden, ob sie der Familientradition folgen und eine kriminelle Karriere einschlagen wollen oder nicht.

Die meisten der 15 Heimzöglinge sind Jungen. Bei einer Minderheit handelt es sich um Mädchen, denen in Mafia-Familien potenziell Zwangsheiraten drohen, mit denen Clans Verbindungen knüpfen oder bekräftigen wollen. Anlässe für die Herausnahme aus den Familien können zum Beispiel Schmierereien und andere Sachbeschädigungen oder Beschwerden darüber sein, dass die Mafiasprösslinge in der Schule andere Kinder bedroht oder geschlagen haben. Im Normalfall führen solche kleineren Vergehen nicht dazu, dass den Eltern die Aufsicht über Kinder entzogen wird - zeigt eine Familie jedoch eine Nähe zur 'Ndrangheta, zieht man jetzt andere Saiten auf.

Bislang befindet sich di Bellas Programm seinen eigenen Angaben noch in einer Experimentier- und Entwicklungsphase. Gelingt es, dann könnte es auch dazu beitragen, dass die 'Ndrangheta für Ermittlungsbehörden und Gerichte besser greifbar wird: Sind kriminelle Organisationen nämlich gezwungen, verstärkt Führungskräfte außerhalb der Blutsverwandtschaft zu rekrutieren, dann erhöht sich auch die Chance, Personen einzuschleusen, die später als Zeugen gegen sie aussagen. Bereits jetzt hält die 'Ndrangheta Ausschau nach Nachwuchs, der sich bei jugendtypischen Straftaten durch Furchtlosigkeit hervortut und testet die Brauchbarkeit und Loyalität solcher Leute mit kleineren Aufgaben. Erweisen sie sich als zuverlässig, dann folgt ein Initiationsritus, bei dem sie ihr Blut auf ein Bild des Erzengels Michael tropfen lassen, das anschließend in ihrer Hand angezündet wird. Dazu müssen sie versichern, der Organisation ihr Leben lang treu zu dienen.

Solche Angebote üben nicht nur in Kalabrien einen gewissen Reiz auf Kinder und Jugendliche aus. Bei der 'Ndrangheta, die enge Verbindungen nach Nord- und Südamerika hat, lässt sich nämlich viel Geld verdienen: Die Organisation kontrolliert große Teile des Kokainhandels, der Schwarzarbeit und der illegalen Einwanderung und erwirtschaftet damit einer Schätzung in einer (von Wikileaks veröffentlichten) US-Diplomatendepesche nach Einkünfte in Höhe von etwa drei Prozent des italienischen Bruttosozialprodukts.

Erweist sich das italienische Jugendrecht als wirksame Waffe gegen die 'Ndrangheta, dann könnte es gegen andere italienische Mafia-Gruppen wie die neapolitanische Camorra oder die apulische Sacra Corona Unita ebenfalls zum Einsatz kommen - falls es auch in anderen Gegenden Richter und Jugendschützer gibt, die furchtlos genug sind. Auch ein Einsatz in anderen Ländern, in denen sich die Organisierte Kriminalität zum Problem entwickelt hat, ist denkbar: In Deutschland könnte es zum Beispiel sinnvoll sein, bei Figuren wie "Bushido" und dessen Umfeld über einen frühzeitigen Entzug von Sorgerechten nachzudenken. Im CDU-geführten Bundesfamilienministerium war dazu bislang noch niemand für eine Stellungnahme erreichbar.

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