"Trotziger Obskurantismus und dogmatischer Relativismus"

Harvard-Professor Steven Pinker sieht die Geisteswissenschaften auf dem Holzweg und plädiert für "Digital Humanities"

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Steven Pinker ist ein bekannter Psychologieprofessor an der Harvard-Universität. In einem ausführlichen Aufsatz für die Zeitschrift New Republic plädiert er jetzt dafür, dass sich Geisteswissenschaften vom "Desaster des Postmodernismus, mit seinem trotzigen Obskurantismus, seinem dogmatischen Relativismus und seiner erstickenden politischen Korrektheit" abwenden und der Naturwissenschaft zuwenden sollten, deren neue Erkenntnisse seiner Ansicht nach das Potenzial haben, andere Disziplinen zu befruchten.

Um zu zeigen, wie interessant die Verbindung von Geistes- und Naturwissenschaften sein kann, ruft Pinker das Zeitalter der Aufklärung in Erinnerung, wo Mathematik und Physik das Nachdenken über die Natur des Menschen und seines Verhaltens maßgeblich mit revolutionierten. Heute ist seinen Beobachtungen nach das Gegenteil der Fall: Geisteswissenschaftler weigern sich, naturwissenschaftliche Neuerungen zur Kenntnis zu nehmen. Der Genforschung, die enorm viel Klarheit in historische Bewegungen von Bevölkerungsgruppen bringen kann, wird beispielsweise von vielen Historikern mit "banausenhafter Indifferenz" betrachtet oder sogar offensiv abgelehnt.

Steven Pinker. Foto: Rebecca Goldstein. Lizenz: CC BY-SA 3.0.

Solche Kritik ist dem Psychologieprofessor zufolge selten fundiert, sondern stützt sich stattdessen auf unscharfe "Buh-Wörter" wie "Szientismus" und "Reduktionismus". Außerdem baut man Strohmänner auf, die es in der Wirklichkeit gar nicht gibt, die sich dafür aber um so besser angreifen und zerlegen lassen. Die dabei verwendeten Argumentationsmuster ähneln denjenigen religiöser Fundamentalisten, wie der Kanadier anhand eines Textvergleichs zwischen einer Historikeräußerung und einer Rede des Bioethik-Beraters von George W. Bush darlegt.

Pinker spricht in diesem Zusammenhang von einer "Dämonisierungskampagne", die naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu Prinzipien wie der Evolution durch die Verbindung mit sozialen Phänomenen wie Sklaverei, Krieg, Völkermord und Rassismus diskreditieren will. Gendertheoretikerinnen wie Suzanne K. Damarin oder Bonnie Jean Shulman werfen sogar der Mathematik vor, Frauen strukturell zu benachteiligen. Daran konnte auch die Sokal-Affäre nichts ändern, bei der sich ein in einer postmodernen Zeitschrift veröffentlichter Jargonaufsatz zur Quantengravitation als linguistisches und soziales Konstrukt als absichtlich platzierter Unsinn entpuppte.

Dabei hätten die Geisteswissenschaften Pinker zufolge ein paar neue Ideen vonseiten der Naturwissenschaften bitter nötig: In den USA gehen die Studentenzahlen nämlich vielerorts zurück und die Absolventen solcher Fächer müssen sich zunehmend in schlecht bezahlten Jobs verdingen oder finden gar keine Arbeit. Neben antiintellektuellen Tendenzen in der US-Kultur und einer zunehmenden Kommerzialisierung der Universitäten sieht der Experimentalpsychologe die Ursache dafür auch bei den Fächern selbst: Sie hätten sich zu lange im postmodernen Dogmatismus ausgeruht und nichts wirklich Neues auf die Beine gestellt. Angeblich beklagen sich Hochschulleiter zunehmend, dass Geisteswissenschaftler immer nur Besitzstände wahren wollten, wenn sie mit etwas ankommen, während Naturwissenschaftler stets aufregende neue Projekte vorzuweisen hätten, wenn sie um Mittel ersuchen.

Unter den "zahllosen neuen Möglichkeiten" die Naturwissenschaft und Technik den Geisteswissenschaften bieten, hebt Pinker unter anderem die Neurowissenschaften, die Verhaltensgenetik und die Informationstechnik hervor. Die automatische Verarbeitung großer Datenmengen bietet ihm zufolge Möglichkeiten für "Digital Humanities" die bislang kaum genutzt würden, obwohl sie teilweise schon jahrzehntelang zur Verfügung stünden. Unter anderem könne man damit die Verbreitung von Tabu- und Zensurwellen auf eine wesentlich verlässlichere Weise untersuchen, als dies bislang geschah.

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