Deutschland setzt sich durch: EU will "reisende Gewalttäter" überwachen und speichern

Eine Studie der EU-Kommission schlägt mehrere Möglichkeiten einer "europäischen Reisesperre" für unerwünschte Teilnehmer von grenzüberschreitenden Großereignissen vor

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Seit dem G8-Gipfel in Heiligendamm drängt das deutsche Bundesinnenministerium auf die Einrichtung einer Datensammlung auf europäischer Ebene, um Fußballfans und Demonstranten an Grenzen zu stoppen oder in Gewahrsam zu nehmen. Jetzt liegt das Ergebnis einer EU-Studie vor. 65% aller Gipfeltreffen würden demnach gestört. Jedoch geraten nun auch Festivals und Umweltproteste ins Visier der Polizeibehörden. Als Blaupause dient die Sicherheitszusammenarbeit von Polen und der Ukraine bei der Meisterschaft EURO 2012.

Anti-Nato-Proteste 2009 in Strasbourg. Bild: Bernard Schmid

Die Europäische Union will den Informationsaustausch zu "reisenden Gewalttätern" effektivieren. Damit kommt die EU-Kommission einer Forderung des damaligen Innenministers Wolfgang Schäuble nach, der nach dem G8-Gipfel 2007 die Einrichtung einer EU-weiten Datensammlung für unliebsame Fußballfans und Gipfeldemonstranten durchsetzen wollte. Von Interesse sind etwa Anzahl erwarteter Personen, ihre bevorzugten Transportmittel und Routen sowie der Zeitpunkt ihrer Anreise ("Troublemaker" im Visier).

Um die rechtliche Situation in den EU-Mitgliedstaaten zu vergleichen und mögliche Zusammenarbeitsformen auszuloten, hat die Kommission bei einer internationalen Beraterfirma eine Studie zur Verbesserung der polizeilichen Kooperation in Auftrag gegeben. Grundlage war ein Fragebogen, der an alle 27 EU-Mitgliedstaaten sowie Kroatien versandt wurde. Gleichzeitig wurden die EU-Polizeiagentur EUROPOL sowie die internationale Polizeiorganisation Interpol konsultiert. Beiträge kamen überdies von den Fußballverbänden UEFA und FIFA. Fallstudien in Italien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Dänemark und Polen lieferten weiteres Material.

Als Ausgangspunkt der Untersuchung galten die "gewalttätige Störung der öffentlichen Ordnung " und damit verbundene "hohe gesellschaftliche Kosten ". Betrachtet werden beispielsweise der G8-Gipfel in Genua 2001, das NATO-Treffen 2009 in Strasbourg und Baden-Baden, der G20-Gipfel 2009 in London sowie mehrere internationale Sportereignisse. Ein besonderer Fokus liegt auf der EURO 2012 in Polen und der Ukraine: Die dortige Zusammenarbeit von EU-Polizeibehörden mit einem "Drittstaat" dient offensichtlich als Blaupause für zukünftige EU-Vorgaben.

Deutschland, Frankreich und Dänemark im Mittelpunkt

Das Ergebnis der Studie, die unter Mitarbeit nicht weiter benannter "externer Berater" erstellt wurde, liegt nun vor. Zunächst wird ein Überblick über Großereignisse der letzten Jahre und die dort genutzten Wege zum Informationsaustausch unter EU-Mitgliedstaaten gegeben. Im Anschluss benennen die Verfasser Defizite der Sicherheitszusammenarbeit, darunter verspätete Reaktionen auf Anfragen, die gleichzeitige Weitergabe von Informationen über zu viele Kanäle, Sprachprobleme, unterschiedliche juristische Terminologien oder technische Probleme. Mitgliedstaaten beobachten überdies mehr Aufstände wegen der Finanzkrise.

Gefordert wird eine einheitliche Definition von "reisenden Gewalttätern". Allerdings geht es nicht mehr nur um Gipfeltreffen und Fußballmeisterschaften. Die Studie benennt grenzüberschreitende Sport-, Freizeit-, Politik- oder umweltbezogene Veranstaltungen aller Art:

  • Sportereignisse: Kann die Anwesenheit ausländischer "Hooligans" umfassen. Verschiedene Formen von kleinerer und ernsthafterer "Gewalt" werden unter dem Begriff "Fußball Hooliganismus" zusammengefasst und meinen Fußballfans, die "Schaden" an der Gesellschaft verursachen
  • Freizeitbezogene Ereignisse: Kann die Anwesenheit ausländischer gewalttätiger Individuen umfassen, die Konzerte oder Partys besuchen
  • Politische Ereignisse: Kann die Anwesenheit ausländischer Demonstranten während internationaler Gipfel umfassen, darunter G8, G20, NATO- oder EU-Gipfel
  • Umweltbezogene Ereignisse: Kann die Anwesenheit ausländischer Demonstranten während Atomtransporten, dem Bau vermeintlich umweltgefährdender Infrastrukturen sowie bei Umweltkonferenzen umfassen

1.506 Festnahmen von "reisenden Gewalttätern" jährlich

Behauptet wird, "reisende Gewalttäter" stellten ein zunehmendes grenzüberschreitendes Problem dar. Ihre Zahl steige an, da Soziale Medien eine größere Rolle bei der Mobilisierung spielen. Belegt wird dies mit der Anzahl durchschnittlicher Festnahmen pro untersuchter Kategorie. Demnach wandern beim Fußball jährlich rund 470 Personen in Gewahrsam, im politischen Bereich wird die Statistik von Protesten gegen Atomtransporte angeführt (180 Personen). In allen Kategorien würden jährlich zusammen rund 1.506 Festnahmen vorgenommen.

Allerdings seien nicht alle Mitgliedstaaten gleichermaßen davon betroffen, eine Häufung liege bei Deutschland, Frankreich und Dänemark. Tatsächlich fielen die Polizeibehörden bei Protesten in Heiligendamm, Strasbourg und Kopenhagen in den letzten Jahren durch unverhältnismäßige Massenfestnahmen auf. Gleichzeitig haben die drei Länder bei vergangenen Gipfeltreffen bestens zusammengearbeitet. Die Kooperation betraf die Einrichtung von Grenzkontrollen oder die Weitergabe von Daten um Personen an der Aus- und Einreise zu stoppen. Deutschland stellte Wasserwerfer, Hundertschaften und weitere Fahrzeuge zur Verfügung (Europäische Amtshilfe gegen Lümmel).

Ein eigenes Kapitel der Studie widmet sich "linkem und anarchistischem Extremismus" und einem sogenannten "Teilbereichsextremismus" ("Single issue extremism"). Als besonders betroffene Länder werden Österreich, Tschechien, Griechenland, Italien und Spanien genannt. Mit einem aus dem Zusammenhang gerissenen Zitat von EUROPOL wird behauptet, die "radikalisierten" Gruppen würden sich Unterstützung auf politischer, diplomatischer und sogar militärischer Ebene suchen.

Gemeint sind Aktivisten aus den Themenbereichen Tierrechte und Ökologie, die als "Umweltextremismus" bezeichnet werden. Entstanden ist das Phänomen demnach in Großbritannien, ab 2009 sei die Aktionsform auf das europäische "Festland" übergeschwappt (Europol und das Gespenst des Anarchismus).