Warum wir Wurzeln ziehen

Lösungen von Polynomgleichungen als "Wurzeln" des Polynoms zu bezeichnen, hat mit einer der bizarrsten Fehlübersetzungen der mathematischen Geschichte zu tun

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Auf Deutsch ziehen wir Quadratwurzeln. Auf Englisch redet man von "square root extraction". Auf Spanisch benutzt man eine wörtliche Übersetzung: "extraer la raiz cuadrada". Woher kommt diese Redewendung und was haben Gleichungen mit der Pflanzenwelt zu tun?

Das "Haus der Weisheit" in Bagdad kamen wähend der Blütezeit des Islam viele islamische Gelehrte zusammen. Bild: Zereshk/public domain

Der Ausdruck "Quadratwurzel ziehen" und Lösungen von Polynomgleichungen als "Wurzeln" des Polynoms zu bezeichnen, hat mit einer der bizarrsten Fehlübersetzungen der mathematischen Geschichte zu tun. Manche Worte und Symbole (man denke an unsere heutigen arabischen Ziffern) fanden ihren Eingang in die mathematische Sprache Europas über Entlehnungen aus arabischen mathematischen Werken. Es war die Geburtsstunde der Algebra und auch von gewissen Missverständnissen.

Bei der Entstehung der Algebra identifiziert man drei verschiedene Epochen: Bei Babyloniern und Ägyptern wurden mathematische Probleme einfach sprachlich formuliert und es gab normalerweise kein ausgezeichnetes Wort für die gesuchte Lösung (oder unbekannte Variablen, wie wir heute sagen würden). Auf diese "rhetorische Algebra" folgte ein "annotiertes" System, bei dem spezielle Marken oder Buchstaben die rhetorische Formulierung anreicherten. Schließlich entstand die durchdachte Lehre von Symbolen und abstrakten Transformationsregeln, die wir heute kennen.

Am Anfang dieser Entwicklung haben Mathematiker aus dem persischen, indischen und arabischen Kulturraum wesentliche Beiträge geleistet. Selbst der Ausdruck "Algebra" ist arabischen Ursprungs. Er wurde von Muhammad ibn Mūsā al-Khwārizmī in einem mathematischen Kompendium des Jahres 820 verwendet.

Das Wort Algebra

Zwischen den Jahren 800 bis 1300 wurden die Araber zu Erben der Wissenschaft und Technologie der Ägypter, Babylonier, Griechen und Römer. Alle Arten von wissenschaftlichen Schriften wurden in Bagdad, dem Zentrum des arabischen Imperiums ab dem neunten Jahrhundert, gesammelt und übersetzt. Das Bait al-Hikma (Haus der Weisheit) in Bagdad wurde zum Think-Tank des Kalifats. Es war der Sammelplatz für die bedeutendsten Gelehrten jener Zeit.

Al-Khwārizmī wirkte auch im Haus der Weisheit. Bereits zu Lebzeiten war sein Ruhm legendär - er galt als Euklid und Diophant der arabischen Welt. Geboren in der Region zwischen Persien und Usbekistan, war Al-Khwārizmī ein Universallgelehrter. Er popularisierte zusammen mit anderen Mathematikern die indischen Ziffern und schrieb didaktische Erläuterungen über algebraische Verfahren. Selbst sein Name, Al-Khwārizmī, verwandelte sich mit der Zeit in unseren "Algorithmus".

Das bekannteste Buch von Al-Khwārizmī trug den Titel "Kitab al-mukhtasar fi hisab al-jabr wa'l-muqabala", was als "Kompendium von Rechnungen durch Ergänzung und Ausgleichen" übersetzt werden könnte. Das Buch war eine Art "Benutzerhandbuch" für die Lösung von mathematischen Problemen. Das Wort "Al-Jabr" im Titel übersetzen viele als "ergänzen". Die erste lateinische Fassung des Werkes (1145) wurde "Liber algebrae et almucabala" genannt, womit das Wort "Algebra" in das europäische Vokabular eintrat.

Jedoch haben vor mehr als 80 Jahren Solomon Gandz und Otto Neugebauer gezeigt, dass die oben erwähnte Deutung von "Algebra" nicht zutreffend ist.1 Babylonier und Ägypter hatten Jahrhunderte früher die grundlegenden Ausgleich-Techniken entwickelt, um Gleichungen mit einer Variablen lösen zu können.

Gandz und Neugebauer konnten Al-Khwārizmīs Quellen auf die Babylonier, Assyrer und Sumerer zurückverfolgen. "Gabru-maharu" bedeutet in Assyrisch Entgegensetzen oder Gleichsein. Die Araber übernahmen die mathematische Technik aber auch die Phonetik des Wortes und daraus wurde das entlehnte Wort "al-jabr", das mit dem arabischen Wort "al-muqabala" identifiziert wurde. Gandz folgerte daraus, dass der Titel "Kitab al-mukhtasar fi hisab al-jabr wa'l-muqabala" knapp als "Wissenschaft der Gleichungen" übersetzt werden könnte. Doppelt hält besser - und so bezeichnen im Titel "al-jabr" und "al-muqabala" eigentlich Gleichungen, einmal auf Assyrisch, ein andermal auf Arabisch.

Die Fehlübersetzung

Bevor jedoch die Araber die mathematische Stafette übernahmen, mussten sie sich mit den geistreichen griechischen Mathematikern auseinandersetzen. Die Griechen hatten eine Vorliebe für geometrische Beweise, da diese recht anschaulich für "das Auge" durchgeführt werden können.

Die mathematischen Probleme jener Zeit wurden so zu Konstruktionen mit Lineal und Zirkel reduziert. Will man z.B. die Quadratwurzel von 2 geometrisch finden, zeichnet man ein Quadrat mit Kantenlänge Eins. Die Diagonale des Quadrats hat dann die gewünschte Länge. Für Addition, Subtraktion und sogar Multiplikation und Teilung von Segmentlängen gibt es die entsprechenden geometrischen Methoden. Dass man viele dieser geometrischen Größen dann nicht mehr als einfache Brüche schreiben konnte, war ein computational Betriebsunfall, den die Pythagoreer aufdeckten. Das Aufspüren der irrationalen Zahlen war für sie so bedeutsam, dass sie den Göttern eine Hekatombe (hundert geschlachtete Rinder) dargebracht haben. "Seitdem zittern die Ochsen, sooft eine neue Wahrheit an das Licht kommt", wusste Ludwig Börne zu erdichten.

Aber nun: Die arabischen Mathematiker (darunter auch al-Khwārizmī in Bagdad) benutzten zwei Worte für die unbekannte Größe in einem Problem: "mal" und "jidr". Das erste Wort wurde für das Quadrat der Unbekannten verwendet, das zweite für die unbekannte Größe selbst.

Die Araber wollten die algebraischen Gleichungen lösen, die die Griechen auf geometrische Art bewältigt hatten. Für die Griechen war die "Seite" bzw. "Kante" einer geometrischen Konstruktion die zu suchende Größe, die "pleura" in ihrer Sprache. Die islamischen Mathematiker übersetzten "pleura" als "jidr", weil dieses Wort "Basis" bzw. "unterster Teil" bedeutet, jedoch bei Pflanzen die "Wurzel" bezeichnet. Als dann die ersten europäischen Mathematiker das Wort "jidr" übersetzten, verwandelten sie es in das lateinische "radix" (wie Radischen), das Wort für Wurzel, ein folgenreicher Fehler.

Eine Seite von Liber Abaci (Das Buch vom Rechnen). Bild: public domain

Unter anderem popularisierten die Übersetzer Johannes Hispaniensis in Sevilla, Gerhard von Cremona in Toledo, und Leonardo di Pisa (besser bekannt als Fibonacci) in Italien die Bezeichnung "Wurzel" und diese wurde zum geflügelten Wort.2 Kapitel 14 von Fibonaccis "Liber Abaci" (von 1202) trug z.B. diesen Titel: "De reperiendis radicibus quadratis et cubitis ..." (Vom Auffinden von Quadrat- und Kubikwurzeln).

Ab dann wurde das Wort "Wurzel" sowohl für die Lösung von quadratischen Gleichungen, als auch für die Lösung von beliebigen algebraischen Gleichungen verwendet. Im ersten Fall wurde die Lösung eine "Quadratwurzel", im zweiten einfach die "Wurzel" der Gleichung.

Nicht alle Mathematiker begangen den Fehler. Der große Algebraiker François Viète in Frankreich und andere mehr übersetzten direkt aus den griechischen Originalen und verwendeten deswegen das Wort "latus" (Seite) für die Unbekannte. Die alternative Terminologie hatte sich aber schon längst in Europa durchgesetzt. Seitdem treibt das "Wurzelfinden" dem Schüler den Schweiß auf die Stirn -- eine spannende Geschichte, die würdig wäre, von Scheherazade in der Tausend und Zweiten Nacht erzählt geworden zu sein.