Wahlpflicht für Erstwähler?

Erste FDGB-Wahlen in den Efha-Werken, Berlin-Britz, Januar 1946. Bild: Deutsches Bundesarchiv (Bild 183-N0703-332). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Allgemein sinkt die Wahlbeteiligung, besonders stark bei jungen Menschen, was, wie eine britische Studie zeigen will, durchaus konkrete politische Folgen zuungunsten der Nichtwähler hat

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Die Wahlbeteiligung sinkt seit Jahrzehnten kontinuierlich in Deutschland und anderen westlichen Demokratien. Es ist nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Wahlbeteiligung noch zunahm und Anfang der 1970er Jahre einen Höhepunkt erreichte (1972: Deutschland 91,1 Prozent, 2009: 70,8 Prozent) offenbar eine Art Müdigkeit an der Demokratie eingetreten, vielmehr an der herrschenden Form der Demokratie, in der die Parteien dominant sind und die Wahlen eher die Funktion haben, die Einwirkungen der Bürger möglichst gering zu halten. An einem Aufbrechen des Parteiendiktats scheint kein Interesse zu bestehen. Ein erster Schritt wäre, die von der Parteiführung auch zur Disziplinierung festgelegten Listenplätze aufzugeben und den Bürgern wie in machen Kommunalwahlen zu ermöglichen, entweder die Liste oder direkt Kandidaten durch Kumulieren und Panaschieren zu wählen. Das würde viel in Bewegung bringen - außerhalb und innerhalb der Parteien.

Gleichzeitig sind die großen Alternativen oder Feindbilder weggebrochen. Viele Parteien drängeln sich in die Mitte, verwalten mit Blick auf die nächste Wahl nur die Gegenwart und entwickeln kein deutlich erkennbares Profil mehr. Trotzdem verbleiben die Parteien in der ideologischen Landschaft, oft genug wird deshalb ein Maskenball aufgeführt, während allmählich neue Bewegungen und Parteien bestehen, die oft schillernd sind, als populistisch bezeichnet werden und sich eine postideologische Identität zulegen, die allerdings im Unterschied zu den zerbröselnden "Volksparteien" oft nur aus einem Kernthema besteht. Das Telepolis-eBook "Parteiensystem im Umbruch" versucht, innerhalb Europas diese neuen politischen Gruppierungen zu beschreiben.

Auffällig ist aber auch, dass die Wahlbeteiligung in allen Altersgruppen in etwa parallel zurückgeht. So ist die Wahlbeteiligung der Älteren in Deutschland weiterhin am höchsten, auch wenn bei den letzten Wahlen die 60-70-Jährigen die 50-60-Jährigen überholt haben. Insgesamt lag die Wahlbeteiligung bei 70,8 Prozent, bei den 60-70-Jährigen bei 80 Prozent, bei den 50-60-Jährigen nur noch bei knapp 74 Prozent (1972: knapp 95 Prozent). Ähnlich stark ging die Wahlbeteiligung den Über-70-Jähriegen zurück, die mit den 40-50-Jährigen noch über dem Durchschnitt liegen.

Bei den jüngeren Jahrgängen war bereits 1990 fast absturzartig ein vorläufiger Tiefpunkt erreicht, danach stieg das Interesse an den Wahlen bis 2002 wieder an, um dann erneut und noch stärker einzubrechen. Von den 30-35-Jährigen beteiligten sich 2002 noch 70 Prozent an den Wahlen, 2009 nur noch 65 Prozent. Bei den Erstwählern unter 21 Jahren gingen noch etwas mehr als 62 Prozent zur Wahl, bei den 25-30-Jähreigen sind es noch 61 Prozent, die geringste Lust zeigen 21—25-Jährige mit 59 Prozent. Die Alten sind auch deswegen wahlentscheidend, weil die schrumpfende Zahl der Jungen nicht einmal ihre Stimmen ausreichend einbringt, obwohl sich viele Entscheidungen der gewählten Regierung auf ihre Zukunft auswirken werden.

Wahlkpflicht für Erstwähler?

In Großbritannien ist die Entwicklung ähnlich, aber noch dramatischer. 2010 beteiligten sich von der Altersgruppe der 18-24-Jährigen nur noch 44 Prozent an der Wahl, bei den über 65-Jährigen lag der Anteil hingegen bei 76 Prozent. Zwischen den Jungen und den Alten gibt es also eine wachsende Kluft hinsichtlich der Wahlbeteiligung. 1970 betrug der Unterschied noch 18 Prozent, jetzt ist er auf 32 Prozent angewachsen. Dazu kommt, dass nach Schätzungen der Anteil der Wähler bei den Unter-35-Jährigen, weniger als 10.000 Pfund verdienen, bei 34 Prozent lag, während 79 Prozent der Über-55-Jährigen mit einem Jahreseinkommen von mehr als 40.000 Pfund wählten.

Das Institute for Public Policy Research, ein britischer Think Tank, weist in der Vorankündigung eines später erscheinenden Berichts darauf hin, dass es in Großbritannien damit in Europa mit die größten Unterschiede in der Wahlbeteiligung zwischen Jungen und Alten gibt. Zudem würde die Wahlbeteiligung in alarmierendem Maße am stärksten bei den jungen und ärmsten zurückgeht, was den Alten und Wohlhabenderen einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf das Wahlergebnis zuschanzt. Bei den Lokalwahlen 2013 haben sogar nur 32 Prozent der 18-24-Jährigen gewählt, jedoch 72 Prozent der Über-65-jährigen. Die Wahlbeteiligung spaltet mittlerweile die Klassen. 1987 war der Unterschied zwischen der Einkommensgruppe mit der höchsten Wahlbeteiligung und der Gruppe mit der niedrigsten bei 4 Prozent, 2010 ist der Unterschied auf 23 Prozent angewachsen. Das bedeutet nach IPPR, dass Menschen in der höchsten Einkommensgruppe mit einer um 43 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit zum Wählen gehen als Menschen in der untersten Einkommensschicht.

Das hat nach dem IPPR ganz konkrete Folgen. So hätten die staatlichen Sparmaßnahmen vor allem junge Menschen betroffen. Die 16-24-Jährigen wurden Kürzungen der staatlichen Dienste in Höhe von 28 Prozent ihrer jährlichen Haushaltseinkommen konfrontiert, bei den 55-75-Jährigen seien es nur 10 Prozent. Bei allen Nichtwählern schlugen die Kürzungen mit 20 Prozent auf ihr Jahreseinkommen nieder, bei den Wählern nur mit 12 Prozent. Und bei denjenigen, die ein jährliches Einkommen von unter 10.000 Pfund haben, würden die Verluste gar 41 Prozent ihres Einkommens betragen, bei denen mit mehr als 60.000 Pfund, 3 Prozent oder 2.104 Pfund. So gesehen sind die Nichtwähler, vor allem die jungen, entweder selbst schuld oder sie werden für ihre Wahlenthaltung bestraft, weil sich dadurch eben die Interessen der anderen Bevölkerungsschichten besser durchsetzen können. Das IPPR sieht einen Grund in der in Großbritannien stärker als in anderen Ländern wachsenden Einkommensungleichheit. In Ländern mit einer geringeren Ungleichheit gebe es eine höhere Wahlbeteiligung - allerdings zeigen sich hier, siehe oben, ähnliche Trends.

Um die großen Unterschiede im Alter und im Einkommen zu reduzieren, schlägt das IPPR vor, dass die Teilnahme für Erstwähler verpflichtend sein soll. Auf den Wahlzetteln sollen nicht nur die Parteien aufgeführt sein, sondern auch die Option: Keine von allen. Der Vorschlag entstand auch aus dem Hintergrund heraus, dass die Labour-Opposition das Wahlalter auf 16 Jahre absenken will und der Labour-Schattenlordkanzler Sadiq Khan erwägen soll, bei einem Wahlgewinn eine Wahlpflicht für die erste Wahl einzuführen. Das IPPR warnt, dass eine Senkung des Wahlalters die Wahlenthaltung noch verstärken würde, wenn man keine Wahlpflicht einführt.

Wenn Menschen nach Erreichen des Wahlalters bei der ersten Gelegenheit wählen, würden sie auch später häufiger zur Wahl gehen, hofft oder glaubt man bei IPPR. Mit einer Wahlpflicht für Erstwähler würde man insgesamt die Demokratie stärken und den jungen Menschen nur eine kleine Bürde auflasten, dafür würden die Politiker, so die Politikprofessorin und Mitautorin des IRRP-Berichts Sarah BIrch, ihre Aufmerksamkeit stärker auf die jungen Wähler richten und diesen damit mehr politische Macht geben.

Und überhaupt gäbe es in Ländern mit Wahlpflicht wie Griechenland, Belgien, Luxemburg, Italien und Zypern - große Überraschung - eine höhere Wahlbeteiligung. Selbst in Belgien, wo es eine Wahlpflicht gibt, aber praktisch keine Sanktionen, würden sich 87 Prozent der Unter-20-Jährigen an den Wahlen beteiligen, die insgesamt bei 90 Prozent liegt. Auch die Nichteinhaltung der Wahlpflicht in Italien wird seit 1993 nicht mehr sanktioniert, 2013 lag die Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen auch nur bei 75 Prozent, 2008 waren es noch 80 Prozent.