Armut lähmt das Denken

US-Wissenschaftler haben mit Experimenten und einer Feldstudie gezeigt, dass geringes Einkommen die kognitiven Kapazitäten erheblich mindert

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Armut bedeutet nicht nur, weniger Geld zu und sich weniger leisten zu können, sondern meist auch schlechtere Arbeit, wenn überhaupt, zu haben, sich schlechter zu ernähren und gesundheitlich maroder zu sein. Wer arm ist, stirbt schlicht früher. Der Unterschied beträgt in Deutschland bis zu fünf Jahren bei Männern (Armut senkt die Lebenserwartung), in anderen Ländern mit einer größeren Einkommensungleichheit kann der Unterschied noch deutlich größer sein. In den USA beispielsweise kann sich die Lebenserwartung von ärmeren und reicheren Menschen um ein Jahrzehnt unterscheiden (In weiten Teilen der USA sinkt die Lebenserwartung im internationalen Vergleich).

US-Wissenschaftler wollen nun herausgefunden haben, wie sie in Science berichten, dass Armut, begleitet von ständigen Sorgen, wie man das prekäre Leben bewältigen, die Miete und das Essen jeden Tag bezahlen, für die Kinder sorgen kann, nicht nur körperliche Folgen hat. Die Anspannung durch die Ungewissheit kann so groß sein, dass sich die ärmeren Menschen schwertun, sich auf anderes als das Lebensnotwendige zu konzentrieren. Armut führe aus der Anspannung heraus zu einem "kognitiven Defizit", was beispielsweise bedeutet, dass der IQ durch Armut um 10 Prozent sinkt.

Die Wissenschaftler sagen nicht, dass ärmere Menschen dümmer sind, sondern dass Menschen, sollten sie in Armut geraten, einen kognitiven Verlust erleiden, weil Armut gewissermaßen das Denken behindert. Sie wollen auch nicht sagen, dass Armut dauerhaft die Intelligenz senkt, sondern dass sie die kognitiven Kapazitäten bindet. Der Ökonom Sendhil Mullainathan von der Harvard University versucht die Hypothese durch ein Beispiel zu veranschaulichen. Man könne sich vorstellen, so sagt er, vor einem Computer zu sitzen, der gerade extrem langsam ist, weil im Hintergrund ein langes Video heruntergeladen wird.: "Nicht der Computer ist langsam, der Grund ist, dass er etwas anderes macht, was ihn verlangsamt." Das Beispiel ist freilich nicht so gut gewählt, weil ein leistungsstärkerer Computer auch mehr gleichzeitig verarbeiten kann. Die Hypothese haben die Wissenschaftler durch Experimente geprüft. In einem Experiment nahmen Kunden eines Supermarktes teil, die dafür Geld erhielten. Die ärmeren hatten ein jährliches Haushaltseinkommen von 20.000 US-Dollar, was dem unteren Viertel oder Drittel der US-Bevölkerung entspricht, durchschnittlich lag es bei 70.000 US-Dollar. Die Versuchspersonen wurden Szenarien vorgelegt, in denen es um finanzielle Probleme ging, die für eine Gruppe als klein, für die andere als groß dargestellt wurden. Sie sollten überlegen, wie sie sich entscheiden würden. In einem Szenario macht ein Auto Probleme und müsste in die Werkstatt, was für eine Gruppe 150, für die andere 1500 US-Dollar kosten würde. Optionen waren hier, ob sie bar bezahlen, einen Kredit aufnehmen oder erst mal warten.

Mit diesen Szenarios sollten die Versuchspersonen vor allem an ihre eigene finanzielle Situation erinnert werden. Dann mussten sie zwei Tests bearbeiten. Bei Ravens Progressive Matrizen, einem IQ-Test, fehlt in einem Muster ein Teil, aus mehreren Teilen muss das mit der richtigen Form ausgewählt werden. Damit sollen logische Fähigkeiten und die Problemlösung in neuen Situationen erfasst werden. Im weiteren Test für räumliche Orientierung und Impulskontrolle wurde den Versuchspersonen eine Form auf dem Bildschirm gezeigt. Nach bestimmten Signalen musste ein Knopf rechts oder links gedrückt werden. Damit sollten Geschwindigkeit und Genauigkeit der Entscheidung gemessen werden. Im Anschluss wurden die Szenarien beantwortet.

Die Leistung in beiden Tests unterschied sich bei den reicheren Versuchspersonen kaum, bei den Ärmeren zeigte sich hingegen ein großer Unterschied: Wer mit den vergleichsweise großen finanziellen Problemen konfrontiert war, schnitt deutlich schlechter ab als diejenigen, die mit den kleinen Problemen zu tun hatte. Unterschiede in der kognitiven Leistung gab es zwischen den Reicheren und den Ärmeren, die mit den kleinen finanziellen Problemen zu tun hatten, nur geringfügig. Ähnliche Ergebnisse in weiteren Experimenten mit veränderten Bedingungen, beispielsweise ohne finanzielle Probleme, um eventuell eine vorhandene Rechenangst auszuschalten, oder mit finanziellen Anreizen für richtige Antworten bei den IQ-Tests. In einem Testlauf beantworteten die Versuchspersonen die Szenarien schon vor dem Ausführen der IQ-Tests, wieder mit einem ähnlichen Ergebnis.

Wechselnde Einkommenssituationen schlagen sich auf kognitive Leistungen nieder

In einem Feldversuch wurden 464 zufällig ausgewählte indische Kleinbauern, die in 54 Dörfern lebten und ihr Einkommen überwiegend durch den Anbau von Zuckerrohr verdienten, 2010 einmal vor und einmal nach der Ernte befragt und den Tests unterzogen. Von der Ernte und dem Zuckerrohrpreis hängt das Jahreinkommen dieser Bauern stark ab. Dazu kommt, dass sie nach der Ernte zumindest über mehr Geld verfügen, während sie davor ärmer sind und von finanziellen Problemen geplagt werden. Auch hier waren deutlich die Unterschiede in der kognitiven Leistung zu sehen, die durch die hier reale Einkommenssituation bedingt sind. Die Leistung unterschied sich mindestens um 9-10 IQ-Punkte. Der körperliche Stress scheint nicht die Ursache zu sein. Zwar waren die Bauern vor der Ernte körperlich etwas stärker gestresst, was sich am Blutdruck und am Puls zeigte, aber die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Unterschiede zu klein sind, um die beobachteten Ergebnisse begründen zu können.

Armut, so die Wissenschaftler, beherrscht die Aufmerksamkeit, löst drückende Gedanken aus und reduziert kognitive Kapazitäten. Vor allem wirke sie sich auf die Aufmerksamkeit aus, die wiederum zum Abfall der kognitiven Leistung führe. Durchschnittlich würde die kognitive Leistung um 13 Punkte im Raven-Test zurück gehen, wobei aber offen, wie sich Armut auf andere kognitive Kapazitäten auswirkt. Sollten die Ergebnisse durch andere Versuche bestätigt werden, dann sind Menschen mit geringem Einkommen auch kognitiv erheblich eingeschränkt, was dazu beitragen könnte, nicht aus dieser Situation herauszukommen, während sich reichere Menschen leichter tun, Probleme zu erkennen und zu lösen, was sich wiederum im Geldbeutel niederschlagen könnte. Zudem könnte die kognitive Beeinträchtigung auch mit verursachen, dass ärmere Menschen oft einen Lebensstil pflegen, der ihrer Gesundheit schadet.

Die Wissenschaftler ziehen aus ihren Ergebnissen den Schluss, dass Politiker nicht nur eine hohe Besteuerung niedriger Einkommen, sondern auch eine hohe "kognitive Besteuerung" vermeiden sollten, die etwa in Form von langen Gesprächen, beim Ausfüllen langer Fragebogen oder beim Verstehen komplexer Anreizsysteme entsteht. All dies würde die "kognitive Bandbreite" besteuern, die bei Ärmeren geringer ist. Überdies sollten wie bei den Bauern sich verändernde Einkommenssituationen berücksichtigt werden.