Telefonüberwachung, Rasterfahndung und V-Mann-Praxis

Interview mit dem ehemaligen Verfassungsschützer Winfried Ridder

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Der Diplompolitologe Winfried Ridder befasste sich 1969 akademisch mit Rechtsextremismus, trat 1972 als Dozent beim Bundesamt für Verfassungschutz ein und wurde dort für fast 20 Jahre bis 1995 als Referatsleiter zuständig für den deutschen linksextremistischen Terrorismus (RAF, Bewegung 2. Juni, Revolutionäre Zellen). Als einer der ersten sichtete der Analyst 1989 die Unterlagen des MfS über die RAF, trat als Zeuge im Prozess gegen Verena Becker auf und verfolgt die Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses in Bund und Ländern. In seinem Buch Verfassung ohne Schutz zieht er über den Kampf des deutschen Inlandsgeheimdienstes gegen den Terrorismus eine bittere Bilanz. Das Bundesamt für Verfassungsschutz verlangte vor der Veröffentlichung unter Hinweis auf strafrechtliche Vorschriften das Manuskript vorab, was Ridder und Hinweis auf Art. 5 Abs. 3 GG ablehnte und schließlich den Verlag wechseln musste.

Sie schreiben, der Verfassungsschutz habe nicht einen einzigen Terroranschlag verhindern können, und mit Ausnahme des Mordfalls Buback, wo drei Tatbeteiligungen festgestellt wurden, auch nichts zur Aufklärung beigetragen. Wofür benötigt man dann einen politischen Inlandsgeheimdienst?

Winfried Ridder: Das Versagen der Verfassungsschutzbehörden bei der Bekämpfung des gewalttätigen Extremismus ist zwar ein beklagenswerter Vorgang, stellt aber seine Legitimation grundsätzlich nicht in Frage. Dafür spricht auch die Tatsache, dass der Verfassungsschutz in seiner Gründungsphase ausschließlich für die Beobachtung verfassungsfeindlicher Bestrebungen zuständig war. Und dies ist auch zukünftig eine wichtige Aufgabe. Heute plädiere ich dafür, dass der Verfassungsschutz zu dieser ursprünglichen Aufgabenstellung zurück kehrt und die Bekämpfung des gewalttätigen Extremismus ausschließlich in die Zuständigkeit des polizeilichen Staatsschutzes fällt.

RAF-Gegenspieler BKA-Präsident Horst Herold, Erfinder der Rasterfahndung, wird häufig als genialer Ermittler dargestellt. In Ihrem Buch weisen Sie jedoch Herold etliche Fehleinschätzungen nach. Waren die bisherigen Autoren zu unkritisch?

Winfried Ridder: Horst Herold war unter den bisherigen Präsidenten des Bundeskriminalamtes sicherlich eine Ausnahmeerscheinung. Er war ein "philosophischer Kriminalist", wie ihn Franziska Augstein in der Süddeutschen Zeitung zutreffend beschrieb. Das schließt ein, dass er ein beeindruckender "Ermittler" war. Aber schon Anfang der 80er Jahre wurde sichtbar, dass sein Lagebild, das er von der Roten Armee Fraktion vermittelte, mit den Realitäten nicht übereinstimmte. In so weit sind zahlreiche Urteile aus meiner Sicht über ihn nicht hinreichend differenziert.

Herold ging in den 1970er Jahren von 60.000 RAF-Sympathisanten und 1.200 hochgefährlichen Leuten aus. War das rückblickend gesehen realistisch?

Winfried Ridder: Die von Ihnen genannten Zahlen hat Herold noch in den 80er Jahren wiederholt. Tatsächlich hat die RAF jedoch zu keinem Zeitpunkt über mehr als 20 Personen in der Illegalität verfügt und ein Unterstützerpotenzial von maximal 250 Personen organisierten können. Wie groß das Sympathisantenumfeld insbesondere in der Anfangsphase der RAF war, ist angesichts der Unschärfe dieses Begriffs niemals annähernd korrekt erfasst worden. Ich schreibe in meinem Buch, dass es zu keinem Zeitpunkt im linken Terrorismus ein Potenzial von "eintausend zweihundert hochgefährlichen Leuten" gegeben hat. Schon gar nicht bei der RAF.

In einer aktuellen Veröffentlichung des BfV ist von über 30.000 gewaltbereiten Linksextremisten die Rede. Allerdings liegt der letzte bekannte linksextremistische Terroranschlag gegen Menschen zwei Jahrzehnte zurück. Wie kommt der Verfassungsschutz auf solche Zahlen?

Winfried Ridder: Es trifft zu, dass "der letzte bekannte linksextremistische Terroranschlag gegen Menschen" im Jahr 1991 stattfand. Ich sehe keinen konkreten Zusammenhang zwischen diesem zutreffenden Hinweis und dem aktuellen Befund des Verfassungsschutzes. Die vom Verfassungsschutz angeführten Zahlen von "30 000 gewaltbereiten Linksextremisten" sind in so fern problematisch, als sie den Eindruck erwecken, dass man überhaupt eine konkrete Zahl über "gewaltbereite Linksextremisten erfassen könne. In jedem Fall ist es unzulässig, einen Zusammenhang zum linksterroristischen Potenzial herzustellen.

Die Präsenz der RAF war in den 1980ern in jedem Postamt und jeder Polizeidienststelle aufgrund der Fahndungsplakate spürbar und schürte das subjektive Angstempfinden. Sie schreiben jedoch, die RAF-Leute hätten bürgerlichen Angestellten-Look gepflegt und wären selbst neben ihren Fahndungsplakate nicht erkannt worden. Warum hielt man an der offensichtlich sinnlosen Öffentlichkeitsfahndung so lange fest?

Winfried Ridder: Die Tatsache, dass sich mit Haftbefehl gesuchte RAF-Mitglieder in ihrer Illegalität so verhalten haben, wie Sie es in Ihrer Frage wiedergeben, wurde den Sicherheitsbehörden erst in der "Wendezeit" bekannt. Damals äußerten sich erstmals mehrere ehemalige RAF-Mitglieder über ihr Verhalten während ihrer Zeit in der Illegalität. Allerdings gab es bei zahlreichen Mitarbeitern in den Sicherheitsbehörden auch schon zu einem früheren Zeitpunkt erhebliche Zweifel an der Wirksamkeit der Öffentlichkeitsfahndung. Zeigten doch aktuelle Fahndungsaufnahmen zwischen 1978 und 1980 (z.B. von Christian Klar und Adelheid Schulz), dass die in der Öffentlichkeit gezeigten Fahndungsfotos nicht der Realität entsprachen.

Winfried Ridder. Foto: © privat

Sie erwähnen die von Herold eingeführte "Häftlingsüberwachung". Was darf man sich hierunter genau vorstellen?

Winfried Ridder: Die "Häftlingsüberwachung" war ein Instrument der polizeilichen Fahndung, das insbesondere Informationen über das Unterstützerpotenzial der RAF und anderer terroristischer Gruppierungen liefern sollte. Es hatte sich zudem unmittelbar nach der Inhaftierung der ersten RAF-Mitglieder gezeigt, dass der bewaffnete Kampf der RAF aus den Justizvollzugsanstalten weiter geführt wurde. Dies zu unterbinden oder wenigstens die dort entwickelten Strategien zu erkennen bzw. zu unterbinden, war ein weiteres Ziel der "Häftlingsüberwachung".

Telefonüberwachung und Rasterfahndung

Sie schreiben, die Telefonüberwachung von Verdächtigen habe sich eher zu einer Verbleibskontrolle entwickelt und sei vor allem wegen der Codierung unergiebig gewesen. Auch der Rasterfahndung sei ein Erfolg versagt geblieben. Wie beurteilen Sie den Sicherheitsgewinn durch strategische Massenüberwachung unserer Tage?

Winfried Ridder: Es trifft zu, dass die klassischen nachrichtendienstlichen Überwachungsmaßnahmen wie die Telefonüberwachung und die Observation eigentlich schon seit Mitte der 70er Jahre verbraucht waren. Wir wissen aus zahlreichen "Lebenserinnerungen" ehemaliger Terroristen aus allen terroristischen Gruppierungen, dass sie sich schon zu diesem Zeitpunkt auf diese Maßnahmen eingestellt und entsprechende Gegenmaßnahmen entwickelt hatten.

Was die von Ihnen angesprochene "Rasterfahndung" und die "strategische Massenüberwachung" unserer Tage angeht, sehe ich den realen Sicherheitsgewinn als äußerst gering an. Die Ende der 70er Jahre entwickelte Rasterfahndung hat nur in einem Fall "gegriffen", und die zu Beginn des "Kalten Krieges" entwickelte strategische Kontrolle hat zur Zeit des "klassischen" nationalen und transnationalen Terrorismus zu keinem einzigen Erfolg geführt. Erst die verstärkten Bemühungen nach dem Desaster des 9.September 2001 führten zu ersten weiterführenden Hinweisen auf die Existenz terroristischer Potenziale.

Sie sehen als Grund für das Ende der RAF die gesellschaftliche Isolation "revolutionärer Politik" und die grundlegende Umbruchssituation Anfang der 1990er. Hätte sich die RAF, deren rohe Gewalt von Anfang an unpopulär und definitiv nicht mehrheitsfähig war, sich nicht ohnehin langfristig von selbst erledigt?

Winfried Ridder: Das Konzept der RAF hat aus heutiger Sicht zum ersten Mal in ihrer Offensive `´77 eine entscheidende Niederlage erlitten, auch politisch-konzeptionell. Alle Bemühungen, sich in den 80er und 90er Jahren durch die Entwicklung neuer antiimperialistischer Konzepte zu erholen, scheiterten. Auch aus der Sicht der RAF. In so weit war die Umbruchsituation Anfang der 90er Jahre nur der Schlusspunkt einer längerfristigen Entwicklung.

Sie resümieren, Sie hätten zu politisch und zu wenig nachrichtendienstlich gedacht. Was genau meinen Sie damit?

Winfried Ridder: Meine selbstkritische Einlassung, wonach ich in wichtigen Fragen zu politisch und zu wenig nachrichtendienstlich gedacht habe, bezieht sich insbesondere auf den Tatbestand, dass ich nicht erkannt habe, dass auf der nachrichtendienstlichen Ebene "Dinge gedacht und gemacht" worden sind, die politisch eigentlich auszuschließen waren. Dies betrifft z.B. den Tatbestand, dass die Stasi alle terroristischen Gruppierungen unterstützt hat, bis hin zu deutschen Rechtsterroristen, obwohl es keinerlei politisch- ideologische Übereinstimmung gab. In diesen und anderen Fällen hatte das nachrichtendienstliche Interesse "über alle alles zu wissen" einen höheren Wert als die politische Glaubwürdigkeit.

V-Mann-Praxis

Vor dem Hintergrund des NSU-Prozesses kritisieren Sie die von Ihnen einst als unverzichtbar bewertete V-Mann-Praxis inzwischen als unverantwortbar. Stattdessen schlagen Sie den Einsatz verdeckter Ermittler vor, der allerdings perfekt legendierte Agenten erfordert und das Risiko eines Fememordes birgt. Verfügen denn die Behörden überhaupt über qualifizierte Kräfte etwa im Bereich islamistischer Strukturen? Sie schreiben selbst, nachrichtendienstlich arbeitende Kleinstgruppen seien nicht nachrichtendienstlich penetrierbar.

Winfried Ridder: Im NSU-Abschlussbericht des Berliner Untersuchungsausschusses wird das bisherige V-Personen-System deutlich kritisiert. Zahlreiche V-Personen sind "aus dem Ruder gelaufen" und hätten gar nicht erst angeworben werden dürfen. Die vorherrschende Meinung ist jedoch nach wie vor, dass man prinzipiell nicht auf den Einsatz klassischer V-Personen verzichten könne. Stattdessen sollen die V-Leute aus der "Grauzone" herausgeholt werden. Einheitliche Standards in Bund und Ländern sollen zudem einen kontrollierten Einsatz garantieren. Sie weisen zu Recht in Ihrer Frage darauf hin, dass ich mich für eine vollständige Abschaffung des bisherigen V-Personen-Systems einsetze und für den Bereich des gewalttätigen Extremismus den Einsatz von UCAs bzw. verdeckte Ermittler vorschlage. Insbesondere in internationalen Zusammenhängen ist deren Einsatz bewährt und unbestritten. Die Anforderungen an ein solches Alternativkonzept sind erheblich. Die in den Einsatz entsandten Mitarbeiter müssen entsprechend ausgebildet und legendiert sein. Sie müssen professionell geführt und im persönlichen und beruflichen Bereich eine Perspektive haben. Erste Erfahrungen zeigen, dass in islamistischen und rechtsextremistischen Beobachtungsfeldern für ein solches Alternativkonzept durchaus reale Chancen bestehen.

Sie plädieren dafür, die Terrorbekämpfung, mit der hierzulande bis zu 36 Organisationen befasst sind, auf die Polizei zu übertragen. Ist das vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der GeStaPo geschaffene Trennungsgebot zwischen Geheimdiensten und Polizei entbehrlich?

Winfried Ridder: In mehreren Gutachten und Urteilen der jüngsten Vergangenheit wird mit großem Nachdruck auf die verfassungsrechtlich erforderliche Trennung verwiesen. Wenn die Bekämpfung des gewalttätigen Extremismus wie bisher Aufgabe der Polizei ist, und wenn, wie ich es für richtig halte, die Zuständigkeit demnächst ausschließlich beim polizeilichen Staatsschutz liegen würde, stellt dies keinen Verstoß gegen das Trennungsgebot dar. Gleichzeitig würde der Verfassungsschutz auf die Aufgaben reduziert, für die er ursprünglich zuständig war.

Sie beschreiben, wie in einem bayrischen Untersuchungsausschuss die Abgeordneten von Politikwissenschaftlern besser über die bayrische Neonazi-Szene ins Bild gesetzt wurden als vom Bayrischen Verfassungsschutz. Benötigt man zur allgemeinen Beobachtung der Ränder noch einen politischen Inlandsgeheimdienst?

Winfried Ridder: "Die Beobachtung der Ränder" sollte in der Zuständigkeit des Inlandsgeheimdienstes "Verfassungsschutz" bleiben. Wenn extremistische Gruppierungen selbst mit nachrichtendienstlichen Mitteln arbeiten, d.h.in ihrem modus operndi sich konspirativer Methoden bedient kann der Staat ihnen nur mit adäquaten Mitteln mit Aussicht auf Erfolg begegnen. Einem "wissenschaftlichen Institut", das gelegentlich zur Demokratiesicherung als Alternative vorgeschlagen wird, stünde das notwendige Instrumentarium nicht zur Verfügung, und es müsste sich ausschließlich auf öffentlich zugängliche Informationen stützen.

Seit den Tagen Adenauers, in denen man eine Unterwanderung des Staates durch die "Fünfte Kolonne" der Kommunisten befürchtete, ist der Verfassungsschutz ist für die politische Überprüfung von Beamten zuständig. Ist es wirklich sinnvoll, Beamtenbewerber auf ihre politische Zuverlässigkeit mit einem Geheimdienst zu durchleuchten?

Winfried Ridder: Ein kürzlich in Bremen bekannt gewordener Fall zeigt die Problematik, um die es heute wirklich geht: Bei einer Personenüberprüfung wurde festgestellt, dass ein Bewerber für den Polizeidienst Verbindungen in den islamistischen Bereich "verdeckt" gehalten hatte. Das Beispiel zeigt, dass Personenüberprüfungen in sicherheitskritischen Bereichen dringend erforderlich sind. Diese vorbeugende Sicherheit sollte auch künftig in den Händen des Verfassungsschutzes liegen. Da es derzeit keine Anhaltspunkte für eine generelle" Unterwanderung des Staates" gibt, reichen die gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen aus.

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