Die Glückskinder brauchen keine Wahlen mehr

Eine kleine Bilanz kurz vor dem angeblichen Wahltag

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Nach dem gestrigen, von allen Medien gelobten Auftritt von Gregor Gysi, Jürgen Trittin und Rainer Brüderle, nach sechs Monaten täglicher Berichterstattung über Peer Steinbrück, der als Krönung seines Wahlkampfes von Pro 7 nun – weltweit einmalig - 300.000 Euro Prämie als Sieger in der TV-Publikumsgunst erhält, nach einem Videowettbewerb des Bundestages, der zur Wahl auffordert, entsteht ein beruhigender Eindruck: Offenbar spielt es keine Rolle, ob und wer gewählt wird.

Das ist insofern beruhigend, weil jahrzehntelang der Eindruck erweckt wurde, Wahlen entschieden über Wohl und Wehe des Landes. Schicksalswahlen. Slogans wie "Freiheit oder Sozialismus" versuchten, eine Spannung zwischen den politischen Lagern künstlich zu erzeugen; Spannungen, die im Wahlkampf 2013 nicht mehr vibrieren.

Die Zuschauer haben sich an die "ehrlichen" und in allen Talkshows präsenten Linken Gysi und Wagenknecht gewöhnt. Der Wirtschafts-Kolumnist von Spiegel-Online, der Financial Times Mitarbeiter Wolfgang Münchau lobte gar das Wirtschaftsprogramm der Linken, da diese als einzige gegen unbegrenzte Rettungsschirme stimmten. Münchau, ein Vor-Finanzkrisen-Mainstream-Autor, als Wahlempfehler für Rot-Rot-Grün – das ist eine Ansage gegen jeden Richtungs- und Lagerkampf mit 4000 Facebook-likes.

Welt-, Cicero-, FAZ- und Focus-Kolumnisten sympathisierten anfangs offen mit der AfD und versuchten, ihr die fehlende Öffentlichkeit zu verschaffen. In wohlhabenden Kreisen dagegen gilt längst Schwarz-Grün als Traumpaarung: Hochwertige, vom schwarzen Landwirtschaftsministerium subventionierte Biokost für naturgeschützte Villenbezirke, deren Verkehrswerte knapp unter dem Vermögenssteuer-Freibetrag der Grünen bleiben, beheizt mit Wärmepumpen aus Windstrom. Tesla neben den Rädern in der Garage.

Der Slogan des Bundestagsvideowettbewerbs, "Du bist die Wahl" (statt "Du hast die Wahl") drückt aus, was in der Schweiz und in Skandinavien bereits seit Jahrzehnten Selbstverständlichkeit ist: Die Parteien und Kandidaten haben keine unterschiedlichen Weltanschauungen und Programme mehr, sondern sie verwalten die kollektiven Besitzstände, wählen also ihrerseits den Bürger.

Selbstverständlich gibt es Interessen, die in diesem großen Konsens unter die Räder kommen. Als "Ungerechtigkeit" und "Missstände" bilden sie das tägliche Empörungspotential für TV-Magazine und Reportagen, Online-Blogs und Tweets.

Die überwältigende, wohlhabende Mehrheit der deutschen Glückskinder aber überrollt die Asylanten und Migranten, die Armen und Verlorenen in vergessenen Stadtvierteln und entvölkerten Regionen, überrollt auch die armen europäischen Länder, die die zinsgünstigen Kredite weitaus dringender benötigten, als die im Rating favorisierten Deutschen, Österreicher, Franzosen, Belgier und Holländer.

Während in den meisten Staaten der Welt Wahlen noch die große Hoffnung symbolisieren, eine neue Regierung könne gerechter und erfolgreicher sein, gilt im Norden, Westen und Süden von Deutschland: Wir Glückskinder brauchen keine Wahlen mehr.

Dass sie trotzdem mit großem Aufwand veranstaltet werden, teilen sie mit anderen Ritualen unserer Gesellschaften. Auch Opern, Fußballstadien, Universitäten, Kreiskrankenhäuser, Gymnasien und öffentlich-rechtliche Krimiserien und Quizshows verkörpern oft scheinbar sinnlose Beschäftigungstherapie für Mitarbeiter und Gäste. Dennoch schaden sie insgesamt nichts, solange das Land zu den Siegern zählt.

Erst der Abstieg lässt uns wieder die Rettungsprogramme vom Speicher holen.