Syrien: Und die Good Guys?

Schätzung: Extremisten und Salafisten machen laut IHS Jane etwa die Hälfte der Aufständischen aus

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Die Einschätzung sollte beruhigend sein: Extremistische Gruppen machen gerade mal 15 bis 25 Prozent der Gegner des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad aus, sagte US-Außenminister John Kerry Anfang September dem Kongress. Er fügte hinzu: "Ich teile die Auffassung nicht, dass die Mehrheit aus Al-Qaida-Leuten und bad guys besteht. Das ist nicht wahr." Und die Aussage Kerrys wahrscheinlich falsch.

Kerrys Quelle, Dr. Elizabeth O’Bagy wurde einige Tage später von ihrem Arbeitgeber, dem Institute for the Study of War, entlassen, weil sie ihren Doktortitel vorgetäuscht hatte. Vorgeworfen wird der Syrien-Expertin zudem eine Parteilichkeit in der Sache: Sie soll politische Leiterin der Syrian Emergency Task Force sein, einer Lobbygruppe, die in Washington für die Unterstützung der syrischen Opposition trommelt, habe dies aber nicht genügend kenntlich gemacht.

Andere Experten äußerten darüberhinaus Zweifel daran, ob sie wirklich über so viele Erfahrungen in Syrien verfüge, wie sie das vorgebe. Einer ihrer Kritiker, Charles Lister, publizierte anschließend eine Gegeneinschätzung, die O'Bagy und damit Kerry im Kern und in Einzelheiten widerspricht.

Dass es in der Mehrzahl säkulare Gruppen sind, die die Opposition anführen, ist nicht zu stützen

Heute sorgt die Studie in einer kurzen Zusammenfassung beim britischen Telegraph für Aufmerksamkeit. Letzte Woche konnte man sie im amerikanischen Magazin Foreign Policy lesen.

Darin widerspricht Lister, der bei IHS Jane tätig ist, der Behauptung, dass säkular orientierte oder moderate Kräfte in der syrische Opposition mehr als nur eine Minderheit ausmachen könnten - eine Vermutung, zu der Kerrys Behauptung Anlass geben könnte. Nach Listers Recherchen wird der Aufstand gegen Assad von Gruppen dominiert, die "zumindest eine islamistische Perspektive auf den Konflikt haben". Der Gedanke, dass es in der Mehrzahl säkulare Gruppen sind, die die Opposition anführen, könne nicht gestützt werden.

Nach seinen Forschungen, die auf Einschätzungen der Geheimdienste und Gesprächen mit Oppositionellen zurückgehen, ergibt sich ein anderes Bild. Lister geht von etwa 100.000 militanten Gegnern der syrischen Regierung aus. Als harten Kern mit einem unzweifelhaft dschihadistischem Programm und einer erklärten Verbindung zu al-Qaida nennt er die beiden Gruppen, die in diesem Jahr für viele Schlagzeilen sorgten, Jabhat al-Nusrah und ISIS.

Beide Gruppen verfügten ungefähr über 7.000 bis 10.000 Kämpfer. Dazu kämen mindestens 10 kleinere Gruppierung, die al-Qaida ähneln und im Norden und Osten des Landes operieren; die Zahl ihrer Kämpfer schätzt er auf 2.000 bis 3000.

32.000 bis 42.000 Kämpfer mit stark islamistisch gefärbter Agenda

Fügt man dem harten Dschihadistenkern, der Syrien als Schlachtfeld für einen internationalen Kampf begreift, Gruppen hinzu, deren Fokus auf einen islamischen Staat in Syrien beschränkt ist, dann kommen weitere 15.000 bis 20.000 Kämpfer dazu, die zur Koalition der Syrian Islamic Front (SIF) gehören.

Dieser Dachverband, der auch vom Experten auf diesem Gebiet, Aron Lund, als Kerngruppe des salafistischen Widerstand geschildert wird ist in elf Gouvernements Syriens präsent. Er gilt - wie auch Harakat Ahrar al-Sham al-Islamiya (HASI), die größte SIF-Gruppe - als Ziel von Geldströmen aus Saudi-Arabien und Katar.

Und: Sowohl die Koalition der Syrian Islamic Front wie auch Ahrar al-Sham sind dafür bekannt, dass sie keine Berührungsängste bei der Zusammenarbeit mit al-Qaida-Dschihadisten haben.

Zählt man die Kämpfer von Jabhat al-Nusrah, ISIS und der SIF zusammen, kommt Lister auf einen Kern von 24.000 bis 33.000 radikal-islamistischen Kämpfern, also bereits mehr als die "Bad Guys", die Kerry sehen wollte.

Da die Suqor al-Sham, die in Idlib und Aleppo agiert und gut mit Ahrar al-Sham verbunden ist, ebenfalls einen islamischen Staat will, zählt Lister auch deren 8.000 bis 9.000 Kämpfer zu diesem Bündnis für einen islamischen Staat. Das ergebe 32.000 bis 42.000 Kämpfer mit stark islamistisch gefärbter Agenda.

Verbindungen zur FSA

Mit Suqor al-Sham kommt man, wenn man Lister folgen will, in ein noch kompliziertere Gelände. Es wird bestimmt von wechselhaften Positionierungen und Verbindungen. So ist Suqor al-Sham Mitglied der Syrian Islamic Liberation Front (SILF), zu der 19 islamistische oder salafistische Gruppen gehören.

Die SILF, die sich als gemäßigter darstellt als die Syrian Islamic Front (SIF), hält Verbindungen zur Freien Syrischen Armee. Wobei der Trend zum Extremismus sich auch hier zeigte. So dass die SILF und die FSA zwar auf dem Kampffeld gemeinsame Sache machten. Aber die SILF hat sich ideologisch immer mehr auf die Seite der Islamisten geschlagen.

Wacklig ist auch die Positionierung von Gruppen, die nominell unter dem Kommando des Obersten Militärrats (SMC), also von General Idriss von der Freien Syrischen Armee, stehen. Lister nennt drei: Liwa al-Tawhid, Liwa al-Islam und Kataib al-Farouq.

Diese Gruppen seien bestimmt weniger hardline als die zuvor genannten, andrerseits hätten sie aber wiederholt betont, dass sie die westliche Demokratie ablehnen und sich einen islamischen Staat in Syrien wünschen. Liwa al-Islam spiele bei den Kämpfen um in Damaskus eine große Rolle und Liwa al-Tawhid in Aleppo. Beide Gruppen sind recht groß.

Für sie kämpfen nach Schätzungen von Lister 24.000 bis 26.000 Aufständische. Rechnet man sie zu den bad guys, so kommen diese auf insgesamt mindestens 56.000 Kämpfer, möglicherweise auch auf 66.000. Das sind weit mehr als die von Kerry veranschlagten Prozentzahlen.

Allerdings gebe es angesichts der fluiden Situation der vielen lokalen Mikro-Kampftheater, der Wechsel der Koalitionen, der Abgrenzungen untereinander etc. freilich Unschärfen bei solchen Angaben, räumt Lister ein. Möglich sei auch, dass man mit einer Politik, die mit "Karotten" arbeitet, Gruppen auf eine Seite bringt, die dem Westen genehmer ist. Aber wie lange das Bestand haben würde, ist ungewiss. Aron Lund hat gegen die Analyse Listers im Grunde nichts einzuwenden, wenn er auch manche Prozentzahlen für übertrieben hält.

Möglich, dass sich viele, die mit Salafis und Dschihadisten kämpfen, den Bart nur aus opportunen Gründen, gute Bezahlung, Waffen etc. oder aus Abenteuerlust ankleben. Das ändert aber nichts daran, dass der Großteil der Opposition Ziele verfolgt, die wenig mit dem zu tun haben, womit im Westen für die Unterstützung des Aufstands geworben hat.