Wie Putin die Amerikaner an die Gleichheit vor Gott erinnert

Ein Kommentar zu dem in der New York Times veröffentlichten Artikel des russischen Präsidenten

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Der Artikel trägt den bescheidenen Titel "A Plea For Caution From Russia" und ist mit bisher 4447 Kommentaren der meist kommentierte und diskutierte Artikel, den die New York Times je veröffentlichte. Als Autor zeichnet in winziger 8-Punkt-Schrift ein "Vladimir V. Putin". Da bekanntlich nicht wenige US-Bürger nur von geringer Bildung sind, wird ganz am Ende aus pädagogischen Gründen erwähnt, dass der Autor von Beruf "President of Russia" sei. Das ist leider nicht ganz korrekt. Putin ist Präsident der "Russian Federation".

Anders als alle anderen Staatsoberhäupter der Welt, selbst also als Kim Il-sung, der wie Obama der eigenen Militärmafia gehorchen muss, braucht Putin für seine Aktionen keine Parlamente, Berater oder Gesetze zu konsultieren.

Diese Freiheit nützt er exzessiv. Er ließ sich mit dem taumelnden französischen Alkoholiker Gerard Depardieu filmen, der medienwirksam aus Steuergründen seinen Wohnsitz nach Russland verlagerte. Er sorgte dafür, dass zwei der Täter im Fall der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja doch noch im Gefängnis landeten. In Moskau ließ er den bekanntesten Oppositionellen Russlands, den Journalisten Alexei Anatoljewitsch Nawalny, als Bürgermeisterkandidat antreten. Edward Snowden erhielt Asyl für ein Delikt, das einst auch in Russland für lebenslange Freiheitsstrafe ausreichte, nämlich den Verrat von Staatsgeheimnissen. Nun hat Putin den in Europa als "Schlächter von Damaskus" dämonisierten syrischen Staatspräsidenten Baschar al-Assad dazu gebracht, seine Chemiewaffen offenzulegen und zu vernichten.

Putin trifft die Amerikaner damit an ihrem wundesten Punkt: Nicht nur die amerikanische Regierung, auch die große Mehrheit des amerikanischen Volkes ist noch immer fest davon überzeugt, dass ausgerechnet die Vereinigten Staaten das Mutterland von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten seien.

Das Problem: Nicht einmal die treuesten Verbündeten der USA, etwa Deutschland und Großbritannien glauben das noch. "Millionen in aller Welt", so schreibt Putin in der New York Times, "sehen Amerika nicht mehr als Modell für Demokratie, sondern als eine auf brutale Gewalt gebaute Macht."

Noch am 7. September, vor nicht einmal zwei Wochen, wurde Putin weltweit als Komplize und Patron des angeblichen Massenmörders Assad geschmäht. "Typen wie Putin und Assad", schrieb die Süddeutsche Zeitung Syrien: Wie die Süddeutsche einfach den Kommentator auswechselt) – und setzte damit den syrischen Diktator gleich mit dem in Russland regulär gewählten Volkstribun.

Dass Putin nun ausgerechnet im Schwesterblatt der Süddeutschen publiziert, demütigt die Münchner, die inzwischen ihre Syrien-Berichterstattung aufgrund zahlreicher Leserproteste vorerst ohne Außenpolitik-Chef Stefan Kornelius reduziert fortsetzen.

Putins Essay in Amerikas führendem Politikblatt verletzt durch subtile Sätze, für die ein Senator in den USA gekreuzigt würde:

No matter how targeted the strikes or how sophisticated the weapons, civilian casualties are inevitable, including the elderly and children, whom the strikes are meant to protect.

Mit diesem Satz erscheinen nicht nur ein möglicher Syrien-Einsatz, sondern auch die Drohneneinsätze in Pakistan, die israelischen Bombardierungen von Gaza und Beirut, die Kriege in Irak und Afghanistan auf einmal als das, was sie eigentlich sind: Politisch unwirksame und rechtlich illegitime Formen militärischer Gewalt.

Das mag die US-Friedensbewegung schon seit dem Vietnamkrieg sagen – aus dem Munde eines russischen Staatsoberhauptes, das noch immer über eine der stärksten Armeen der Welt und über alle gängigen Massenvernichtungswaffen gebietet, klingt es ungewohnt.

Für atheistisch-aufgeklärte europäische Ohren geradezu schmerzhaft klingt Putins Essay mit einem aus den Enzykliken der Päpste stammenden Vokabular aus:

It is extremely dangerous to encourage people to see themselves as exceptional, whatever the motivation. There are big countries and small countries, rich and poor, those with long democratic traditions and those still finding their way to democracy. Their policies differ, too. We are all different, but when we ask for the Lord’s blessings, we must not forget that God created us equal.

In den USA, in denen gerade die Gleichheit vor Gott sozusagen den einzigen Gründungsmythos des "American Dream" darstellt, dem einst im 18. Jahrhundert Millionen Flüchtlinge aus den barbarischen Monarchien und intoleranten Gottesstaaten Europas folgten, ist die Erinnerung an die Gleichheit vor Gott durch den Chef des "Reichs des Bösen", das Russland im Bewusstsein der meisten Amerikaner noch immer ist, ein Affront, ärger als jede Kriegsdrohung.

Die USA, in denen zwei Drittel der Bevölkerung tödliche Handfeuerwaffen besitzen und die ihr halbes Staatsbudget für Militär, Kriege, Gefängnisse, Geheimdienste und Justiz ausgeben, sind nun das letzte Hindernis für eine zumindest militärisch friedliche Welt.

Die Vereinigten Staaten sind die letzte Weltmacht, die sich noch gegen das friedliche Primat des Wirtschaftens wehrt, indem sie im eigenen Lande wie in der Welt mit Waffengewalt und Staatsterrorismus den Aufbau zivilen Wohlstandes für alle Bürger verhindert.

Russen und Chinesen möchten längst in Kitzbühel, München und Cannes feiern, in Oxford und Heidelberg studieren, in Paris und London shoppen, nicht an den Fronten des Nahen und Mittleren Ostens Vasallenstaaten verwalten.

Die Amerikaner an die Gleichheit vor Gott zu erinnern – das ist, wie den Iranern, Taliban und Saudis die 109. Sure des Koran vorzulesen, in der es da heißt: "Ihr habt eure Religion und ich habe meine Religion."

Köstlich.