Aleatorische Demokratie

Timo Rieg plädiert für eine Mischung aus einem ausgelosten Laienparlament, direkt gewählten Ministern, Volksinitiativen und Volksabstimmungen

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Der Verhaltensbiologe und Journalist Timo Rieg beschäftigt sich seit den 1990er Jahren mit Modellen einer Demokratiereform. Der Reformvorschlag, den er in seinem neuen Buch präsentiert, klingt ungewöhnlich.

Herr Rieg – in Ihrem Buch Demokratie für Deutschland - Von unwählbaren Parteien und einer echten Alternative fordern sie eine "aleatorische Demokratie", deren Parlament durch Losentscheid zustande kommt. Das System erinnert an die Jury Duty in den USA. Kann man da – empirisch gesehen – wirklich erwarten, dass bessere Entscheidungen zustande kommen, wenn man beispielsweise an O.J. Simpson denkt?

Timo Rieg: Die Zufallsauswahl des Parlaments würde ich nicht mit der Jury in einem Strafverfahren vergleichen wollen. Aber: Wenn wir 600 Menschen aus der Gesamtbevölkerung auslosen, haben wir in jedem Fall ein repräsentatives Parlament (was bei 12 Geschworenen statistisch nicht zu erwarten ist). Und für dieses "Bürgerparlament" schlage ich ja auch eine ganz andere Arbeitstechnik vor, als sie im derzeitigen Berufspolitikerparlament existiert und die sich auch völlig von einer amerikanischen Jury unterscheidet.

Timo Rieg

Warum soll das Parlament nicht im Plenum beraten, sondern in 24 Beratungsgruppen á 25 Personen und 120 jeweils fünfköpfigen Arbeitskreisen?

Timo Rieg: Dieses Beratungsverfahren ist seit 40 Jahren unter dem Namen "Planungszelle" bzw. international als "Citizens' Jury" erprobt: 25 Personen, die in wechselnden Kleingruppen zur Beratung zusammen kommen. Im großen Plenum werden Fensterreden gehalten - von den wenigen, die das können und sich zutrauen. In den Kleingruppen à 5 Personen hingegen gibt es ein gleichberechtigtes Gespräch, Offenheit, Interesse an den Ideen und Fragen der anderen, ja sogar Vertrauen. Hier versucht man nicht, eine Mehrheit hinter sich zu bekommen, sondern einen Konsens zu erzielen - und der ist in der Regel gerade kein Kompromiss.

Sie schlagen vor, dass das Parlament wöchentlich neu ausgelost wird. Warum so eine kurze Frist?

Timo Rieg: Das ganz große Kapital eines Bürgerparlaments ist seine Repräsentativität. Die ausgelosten Bürger sollen dort genau so sein, wie sie bisher im Leben waren. In die Rolle als Parlamentarier wachsen sie schnell rein, von Planungszellen weiß ich, dass die Ausgelosten schon am zweiten Tag sehr genau ihre Rolle kennen. So sollen sie miteinander diskutieren - als normale Bürger, wissend, dass sie in wenigen Tagen auch weiterhin genau das sind: normale Bürger. Bei längeren Beratungen wird sich auch in den ständig wechselnden Kleingruppen wieder eine Hierarchie, eine Rangordnung herausbilden, es wird Meinungsführer geben - und es kommen nach und nach Eigeninteressen ins Spiel. Die Erfahrung zeigt: Innerhalb von 5 Tagen kommen sehr kreative, sehr gute Ergebnisse zustande. Und am Ende dieser 5 Tage sind die Ausgelosten auch ziemlich geplättet - wenn auch glücklich.

Warum wollen Sie nur Ministern und dem Volk ein Initiativrecht zubilligen, aber nicht dem Parlament?

Timo Rieg: Es ist einfach nicht notwendig. Das Bürgerparlament ist ja eben keine Herrschaftsform mehr, sondern schlicht aus arbeitsökonomischen Gründen ein "Minipopulus". Dieses Parlament soll Gesetze beraten, Fragen dazu stellen, Vorschläge machen, die Bürokratie auf Trab halten. Es ist völlig überflüssig, dass ich ein besonderes Initiativrecht bekomme, nur weil ich gerade für 5 Tage als Bürgerparlamentarier ausgelost worden bin. Gute Ideen sollten von diesem Losentscheid nicht abhängig sein. Aber natürlich ergeben sich aus den Beratungen des Bürgerparlaments sehr klare Vorgaben an die Regierung.

Kennen Sie die britische Fernsehserie Yes Minister? Da sind die Politiker der Parteien nur Hampelmänner der Bürokraten, ohne dass sie es merken. Wäre das bei ausgelosten Entscheidern nicht in noch viel stärkerem Ausmaß der Fall?

Timo Rieg: Die Serie kenne ich nicht. Aber ausgeloste Parlamentarier sind gerade keine Hampelmänner von irgendwem. Im Gegensatz zu Berufspolitikern sind sie völlig unabhängig, es gibt keinerlei Lobbyisteneinfluss, es gibt keine Karriereplanung, nichts, was Abhängigkeit schaffen würde. Dafür die absolute "Gewalt" über die Gesetzgebung. Das heißt: Ein Bürgerparlament können Sie nur überzeugen, und Sie sind an jede Entscheidung von dort gebunden. Soviel Unabhängigkeit gibt es mit keinem anderen Verfahren!

Die direkt vom Volk gewählten Minister sollen in ihrem Modell höchstens vier Jahre lang im Amt bleiben, dann entscheidet die Bürger per Abstimmung, ob sie einen finanziellen Bonus bekommen. Würde das nicht unverantwortliche Entscheidungen zum Ende einer Amtszeit provozieren?

Timo Rieg: Minister sind Exekutive. Sie führen demnach vorhandene Gesetze aus, sie gestalten den Bürokratiealltag. Wer das gut macht, also zu unserem Wohl, soll mit einem goldenen Handschlag belohnt werden. Gewählte Minister können keine Geldgeschenke machen, weil sie kein automatisch Ja-sagendes Parlament hinter sich haben - sie müssen ein Bürgerparlament überzeugen. Und nein, dieses wird nicht jedem "Geschenk" zustimmen, - ganz anders als Berufspolitiker.

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