Das Tafelsilber der Silberlocken

Teil II - Seniorenwirtschaft und Generationengerechtigkeit

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Zu den größten Herausforderungen, denen sich Gesellschaft und Politik unserer Zeit stellen müssen, gehört der demographische Wandel. Empfehlungen für eine zukunftsfähige, generationsgerechte Gestaltung des Wandels gibt es einige - jetzt auch von der Europäischen Kommission in ihrem neuen Grünbuch Angesichts des demographischen Wandels - eine neue Solidarität zwischen den Generationen.

Die Menschen leben immer länger - und gleichzeitig werden immer weniger Kinder geboren. Die Gesellschaft altert. Dem sind unsere sozialen Sicherungssysteme nicht mehr gewachsen, da sie weitestgehend auf dem Solidaritätsprinzip beruhen, bei dem kontinuierlich die Jüngeren und Stärkeren für die Älteren und Schwächeren sorgen.

Dabei vollzieht sich der demographische Prozess "alternder Gesellschaften" keineswegs nur in Deutschland, sondern findet in mehr oder minder allen Ländern der Europäischen Union statt und wird etwa 2050 sämtliche Staaten der Welt ergriffen haben. Er schafft ein Neuland ohnegleichen.

Zum einen wird die Bevölkerung Europas in den nächsten vierzig Jahren insgesamt abnehmen, zum anderen wird der Anteil der Älteren und Alten, also der über Fünfzigjährigen, auf fast die Hälfte der Gesamtheit anwachsen, so das Grünbuch der EU-Kommission:

Die Bevölkerung der Union dürfte bis 2025 nur noch leicht anwachsen, und dies vor allem dank der Zuwanderung, um danach zu schrumpfen... Aber 55 der 211 Regionen der Europäischen Union mit 15 Mitgliedstaaten verzeichneten schon in der zweiten Hälfte der 90er Jahre einen Bevölkerungsrückgang; dies gilt auch für die meisten Regionen der neuen Mitgliedstaaten (35 von 55)... Dieser Rückgang ist noch rascher und tief greifender, wenn man sich nur die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (15-64 Jahre) ansieht... Das Altern der Bevölkerung könnte das jährliche ,potenzielle Wachstum' des BIP in Europa von heute 2-2,25 % auf 1,25 % im Jahre 2040 drücken.

Ohne jeden Zweifel trifft es auch zu, dass die Renten- und Krankenkassen Deutschlands in ihrer heutigen Verfassung die gesundheitliche Versorgung älterer Menschen in absehbarer Zukunft nicht mehr werden gewährleisten können. Ohne grundlegende Reform müssen sie auf längere Sicht den finanziellen Kollaps erleiden. Diesen Befund bestätigte kürzlich erst wieder die von der Bertelsmann Stiftung eingesetzte Expertenkommission in ihren Empfehlungen Ziele in der Altenpolitik.

Die Grafik zeigt den Wandel der Altersstruktur der europäischen Bevölkerung (EU25) von 1950 bis 2050, wobei die Angaben für die Jahre von 2000 bis 2050 prognostiziert sind aufgrund der Quellen des UN World Population Prospects (2002 Revision) und der Eurostat 2004 Demographic Projections (Baseline scenario). Abb.: Europäische Kommission

"Bereits heute entfallen 43 Prozent der Gesamtausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung auf die älteren Menschen ab 65 Jahren", so der wissenschaftliche Leiter der Kommission, Professor Andreas Kruse von der Universität Heidelberg. Während die durchschnittlichen medizinischen Gesundheitsausgaben pro Jahr in der Gruppe der 40-Jährigen derzeit noch bei 2.200 Euro lägen, stiegen sie bei den 60-Jährigen auf 3.850 Euro und in der Gruppe der 80-Jährigen sogar auf 6.800 Euro an. Heute seien lediglich 4 Prozent der Bevölkerung über 80 Jahre. Im Jahr 2050 würden mit knapp acht Millionen Bundesbürgern bereits 11 Prozent zu den Hochbetagten gehören.

Der dadurch hervorgerufene Bedarf an Rentenaufkommen, medizinischer Versorgung und altersgerechten Lebensumständen kann aber durch die Solidargemeinschaft in ihrer heutigen Form nicht mehr gedeckt werden. Denn die immer weniger werdenden Jüngeren, die gleichzeitig vom Umbau des Arbeitsmarktes und oft auch von Arbeitslosigkeit betroffen sind, können nicht gleichzeitig die Mittel für die akute Versorgung der nicht erwerbsfähigen und -tätigen Menschen und zusätzlich die deutlich steigenden Rücklagen für ihre eigene Alterssicherung aufbringen. Soweit die überwiegend bekannten negativen Aspekte der "alternden Gesellschaft", die bislang fast ausschließlich im Fokus der öffentlichen Betrachtung standen. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille.

Was tun?

Um Gesellschaftsstrukturen zu schaffen, die den neuen Entwicklungen standhalten und zukunftsfähig sind und dabei eine möglichst hohe Lebensqualität garantieren, gelten drei Schwerpunktbereiche als Erfolg versprechend:

  1. eine dynamische Familienpolitik, die vor allem auf eine wesentlich bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen und Männer hinwirkt,
  2. der Umbau der Sozialsysteme unter Berücksichtigung der Generationengerechtigkeit,
  3. eine forcierte "Seniorenwirtschaft".

Soweit der Konsens zwischen nahezu allen deutschen Wissenschaftlern, Politikern und Parteien. Zu diesem nicht völlig neuen Ergebnis kommt auch das EU-Papier.

Familienpolitik

Da der Geburtenrückgang auch ein Zeichen dafür ist, dass die Familien, die generell einen wesentlichen Bestandteil der deutschen wie der europäischen Gesellschaft ausmachen, "keine Rahmenbedingungen mehr vorfinden, die sie zu mehr Kinderreichtum ermutigen", so die EU-Kommission, muss Politik die Familien ermutigen und Frauen wie Männern die Möglichkeit bieten, Familie und Beruf wesentlich besser als bisher miteinander vereinbaren zu können. "Das um so mehr, als die Familie auch weiterhin eine wichtige Rolle im Hinblick auf die Solidarität zwischen den Generationen spielen wird." Dabei sei das Prinzip der Chancengleichheit von Männern und Frauen in allen Politikbereichen der Union zu berücksichtigen.

Auch die Bundesregierung sieht die Vereinbarkeit von Beruf und Familie als Fundament familienfreundlicher Rahmenbedingen, die zu einer Umkehr oder zumindest Korrektur der aktuellen demographischen Situation führen sollen. In seiner familienpolitischen Grundsatzrede vom 13. April 2005 bekräftigte Bundeskanzler Schröder die Bedeutung einer offensiven Familienpolitik: "Deutschland braucht stabile Familien und eine aktive Bevölkerungsentwicklung mit mehr Kindern." In der anbrechenden Wissensgesellschaft sei es deshalb "eine strategische Aufgabe ersten Ranges, wie viele Kinder hier geboren werden".

Dabei irrt völlig, wer meint, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf "lediglich" dem Anspruch und "Selbstverwirklichungsstreben" von Frauen geschuldet sei. Auch wenn es manchen bei den heutigen Arbeitslosenzahlen kurios anmuten mag, so wird sich doch aufgrund der geburtenschwachen Jahrgänge in nicht allzu ferner Zeit ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften auf nahezu allen Gebieten ergeben. In dieser Situation kann in keinem Fall mehr auf die Leistungen gut ausgebildeter Frauen verzichtet werden, ebenso wenig übrigens wie auf die Potentiale älterer Arbeitnehmer. Die Wirtschaft täte also gut daran, rechtzeitig für familienfreundliche Rahmenbedingungen zu sorgen.

Doch selbst wenn die familienpolitischen Anstöße bei Bevölkerung und vor allem Wirtschaft auf fruchtbaren Boden fallen, können die gewünschten Resultate erst in fernerer Zukunft Wirkung zeigen. Auf keinen Fall entbinden sie von der Notwendigkeit, die Sozialsysteme grundsätzlich und zeitgemäß zu reformieren.

Umbau der Sozialsysteme und Generationengerechtigkeit

Der erforderliche Umbau der sozialen Sicherungssysteme bedeutet weitestgehend den Abschied vom bislang gültigen Solidaritätsprinzip, das in Bezug auf das Rentensystem oft auch als Generationenvertrag bezeichnet wird. Allerdings ist der Generationenvertrag kein Vertrag im formal juristischen Sinn, sondern besteht aus einem gesellschaftlichen Konsens, der die Finanzierung der Renten bislang im Umlageverfahren gesichert hat: Die jeweils Erwerbstätigen zahlen mit ihren Beiträgen die Renten der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Generation.

So sehr alle Seiten eine Reform des Renten- und Krankenversicherungssystems grundsätzlich begrüßen, so sehr differieren sie in Bezug auf das Wie, besonders heftig im Gesundheitswesen. Während das SPD-Modell für das Gesundheitswesen eine Bürgerversicherung vorschlägt, bei der alle je nach Leistungsfähigkeit (die nicht mehr nur durch das Einkommen aus Erwerbstätigkeit bemessen wird) unterschiedliche Beiträge einzahlen, jedoch die gleichen hochwertigen Leistungen erhalten, womit das bisherige Solidaritätsprinzip weitestgehend erhalten bleibt, empfiehlt die CDU-Kommission in ihrem Grundsatzpapier zur Reform der sozialen Sicherungssysteme ein so genanntes "Prämienmodell", oft polemisch als Kopfpauschale tituliert. Dieses würde das heutige System der gesetzlichen Krankenversicherung in ein Kapital gedecktes, einkommensunabhängiges und "erheblich demographiefesteres" überführen, in dem alle, also beispielsweise Chefarzt ebenso wie Aushilfskrankenschwester, den gleichen Beitrag einzahlen. Der notwendige soziale Ausgleich für die Bezieher kleiner Einkommen würde dabei über eine partielle Rückerstattung erfolgen und aus Steuermitteln finanziert werden. Die großen Unterschiede der beiden Modelle liegen kaum oder gar nicht in der finanziellen Belastung der Menschen, sondern in der praktischen Handhabung, also auf der bürokratischen Seite.

Eine wichtige Rolle bei der Auseinandersetzung um die Sozialreformen und ganz besonders hinsichtlich deren Finanzierbarkeit spielt immer das Problem der Generationengerechtigkeit, ein ebenso erheblicher wie heikler Faktor. Denn er übt einen großen Einfluss hinsichtlich der Akzeptanz von Maßnahmen bei der Bevölkerung aus. Zwar verfügt die Demographie über Werkzeuge, die normative, objektive Positionen ermöglichen, doch die gewonnenen Ergebnisse entsprechen des Öfteren nicht dem subjektiven Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung oder einzelner Bevölkerungsgruppen. So stellt Ursula Dallinger in ihrer Abhandlung Generationengerechtigkeit - die Wahrnehmung in der Bevölkerung fest:

In der Tat wurde die Rentenversicherung im Jahr 2000 von ca. 60 Prozent der deutschen Bevölkerung im Alter zwischen 16 und 101 Jahren als ungerecht eingestuft. Erwartungsgemäß sind es insbesondere die jüngeren Kohorten, die das deutsche Rentensystem so beurteilen. Die geburtenstarken Kohorten der 1950 bis 1969 Geborenen erwartet im eigenen Rentenalter - wegen der dann erwerbstätigen, geringer besetzten nachrückenden Kohorten, die per Umlage die Renten-, Pflege- und Gesundheitsleistungen finanzieren sollen - ein knapper ausgestatteter Lebensabend.

Seniorenwirtschaft

Während um die fundamentalen Reformen also noch prinzipiell gestritten wird, scheint ein anderer Pfad relativ problemlos und durchaus generationengerecht zu gehen zu sein - wenn er denn entdeckt und gegangen wird: die "Seniorenwirtschaft". Dieser recht neue Begriff, der sich im Englischen mittlerweile als Silver Economy nieder geschlagen hat, umfasst einen Wirtschaftssektor, der die Bedürfnisse von älteren (50 - 79 Jahre) und alten (über 80 Jahre) Menschen erfüllen hilft und damit die Binnennachfrage steigert. Er dient somit gleichermaßen der Förderung von Lebensqualität und Wirtschaftswachstum. Im Sommer 2005 will Bundesfamilienministerin Renate Schmidt mit ihrem fünften Altenbericht entsprechende Empfehlungen der Bundesregierung vorlegen.

So nach und nach dringt also ins öffentliche Bewusstsein ein, dass hier nicht nur ein wachsender, noch keineswegs gedeckter Bedarf besteht, sondern auch das notwendige Geld ihn zu decken vorhanden ist. Wie Studien aus Nordrhein-Westfalen, das bei der Seniorenwirtschaft die Nase recht weit vorn hat, zeigen, verfügt ein großer Teil der Rentnergeneration über erhebliche Mittel, die zur freien Verfügung stehen. Diese Gruppe ist durchaus bereit, diese Mittel für hochwertige Angebote, die ihren Lebensumständen dienlich sind, auszugeben.

Die finanziellen Ressourcen der Senioren können auf diese Weise in Arbeitsplätze für die Jüngeren einfließen. Und dies nicht erst irgendwann im Erbschaftsfall, sondern zu einem guten Teil bereits jetzt. Sonst vererben, so ein Referatsleiter des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie, die heutigen Rentner aufgrund der weit gestiegenen Lebenserwartung das sprichwörtliche Tafelsilber ihren Nachkommen erst, wenn diese selbst bereits im Rentenalter sind. Tenor:

Man muss die wohlhabenden älteren Menschen dazu bringen, dass sie das Kapital, das sie oder ihre Vorfahren in und durch diese Gesellschaft verdient haben, in dieser Gesellschaft arbeiten zu lassen.

Viel hat sich in Bezug auf altersgerechte Angebote bereits getan, besonders im technologischen Sektor und im Dienstleistungsbereich, und da vor allem beim Handwerk. Verhältnismäßig spektakuläre Beispiele finden sich hinsichtlich eines zukunftsorientierten Wohnens. Angebote wie das Innovative Haus und das Smarter-Wohnen-Projekt zeigen, welche umfangreichen Dienstleistungen offeriert werden, um ein weitestgehend selbst bestimmtes Leben bis ins hohe Alter zu ermöglichen. Einen Überblick bietet das NRW-Portal Senioren Online.

Aber die Chancen des demographischen Wandels und die Notwendigkeit ihrer praktischen Umsetzung sind noch längst nicht überall angekommen. Für die Kommunen Deutschlands ist es zwar das Thema der Zukunft. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Bürgermeisterbefragung, die die Bertelsmann Stiftung im Februar und März 2005 in Kommunen mit mehr als 10.000 Einwohnern durchgeführt hat. Demnach halten mehr als 70 Prozent der Bürgermeister das Thema "Demographischer Wandel" für sehr wichtig. Doch nur ein Drittel der befragten Kommunen gab an, sich bereits ausreichend damit zu beschäftigen.

Darüber hinaus garantiert auch ein hervorragendes Angebot noch keinen unmittelbaren Erfolg. Es herrscht bei der Begrifflichkeit des Alters sowie seiner Akzeptanz in der Gesellschaft einerseits und, dadurch mit bedingt, bei der Kommunikation des Alters als Innovationsquelle andererseits noch deutlicher Mangel. So kennt Volker Becker, Geschäftsführer der Handwerkskammer Düsseldorf, nur zur Genüge die Klage vieler Handwerker, die da lautet: Wir haben älteren Menschen so viel Sinnvolles und Hilfreiches, teilweise geradezu Revolutionäres zu bieten. Aber wir wissen nicht, wie wir sie erreichen, wie wir es vermitteln können. Selbst die tollsten Produkte und Dienstleistungen werden oft missachtet, sobald sie als spezielle Seniorenangebote daher kommen. Dabei muss man gar nicht so gekonnt daneben formulieren wie ein inzwischen schon legendärer westfälischer Malermeister, der seine in Preis und Qualität beispielhaften Leistungen speziell für ältere Kunden kommunizieren wollte, indem er diese gezielt anschrieb und mit "Liebe Letztrenovierer" anredete. Was ihm nicht einen Auftrag einbrachte.

Damit die Vorstellungen möglichst vieler EU-Bürgerinnen und -Bürger Beachtung finden und in die Beratungen und Konzepte der Union für eine lebenswerte Zukunft einfließen können, besteht bis zum 1. September 2005 die Möglichkeit, der Kommission mal die eigene Meinung zu sagen, am einfachsten über ein Formular auf der EU-Internetseite.