Erst lesen, dann schreiben

Seymour Hersh erklärt in Hamburg, was Journalismus sein kann

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Journalistische alltägliche Praxis einerseits, die wissenschaftliche Reflexion über die Medien andererseits – können beide voneinander lernen? Wie ein guter Journalist arbeitet, lernte man auf der DGPuK-Jahrestagung (Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft) zum Thema "Medien-Qualitäten" beim Nestor des investigativen Journalismus: Seymour Hersh.

Seymour Hersh auf der DGPuK-Jahrestagung. Foto: Gabriele Hooffacker

Der Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh hat 1968 als junger Reporter das Massaker von My Lai aufgedeckt, 2004 den Folterskandal von Abu Ghraib. Im voll besetzten Hörsaal A der Hamburger Universität berichtete er ganz bescheiden, wie ein investigativer Journalist arbeitet: "Hingehen und mit den Leuten reden." So habe er es zunächst mit dem saudischen Multimillionär Adnan Kashoggi gemacht, der der Regierung nahe steht (Richard Perle und die Geschäfte), und schließlich auch im Irak-Krieg: Er sei an die Front gefahren und habe mit den Offizieren, aber auch den einfachen Soldaten gesprochen (Pentagon setzt auf verdeckte Operationen)

Dazu muss man freilich die richtigen Fragen stellen. "You have to read before you write" - Hersh hatte Hinweise zur systematischen Folterung in Abu Ghraib und über die dafür Verantwortlichen in Artikeln der Zeitschrift The New Yorker aufgedeckt (Schlimmeres kommt noch, Rumsfeld und die supergeheime Pentagon-Abteilung) Die an die Öffentlichkeit gelangten Fotos dienten, so Hersh, der Erpressung. "Was wussten denn die jungen Soldaten wie Lynndie England vom Islam? Woher hätten sie wissen können, dass Sexualität hier ein Tabu ist, dass Männer sich nicht einmal vor Männern, geschweige denn Frauen, nackt zeigen?" Hersh ist überzeugt, dass die Fotos mit dem Ziel gemacht wurden, die Fotografierten zu erpressen. Denn in dem Wissen, dass ihren Frauen, ihren Familien diese Fotos gezeigt werden könnten, hätten sie mit dem Geheimdienst zusammengearbeitet.

"Was tat Bush, als er von Rumsfeld im Januar 2004 informiert wurde? Nichts!" Mit der Verurteilung von ein paar ausführenden Soldaten soll die Sache nun unauffällig aus der Welt geschafft werden.

Ob er selbst schon einmal bedroht worden sei, wollte ein Zuhörer von Seymour Hersh wissen. Als Antwort berichtete Hersh von einem ominösen Anruf damals, als er über die Verstrickung des CIA in Panama um den Diktator Noriega recherchierte. Der anonyme Anrufer berichtete dem Kindermädchen der Hershs lediglich genau, an welchen Orten sich die drei Töchter der Familie in dieser Minute befanden, nämlich in welcher Schule. Mehr nicht. "Die Drohung war sehr indirekt, sehr subtil".

Mehr Recherche gefordert

Man muss eine mutige, unabhängige Redaktion im Rücken haben, um wie Seymour Hersh Beiträge recherchieren und veröffentlichen zu können. Mehr Zeit und Geld für Recherche forderte denn auch Thomas Leif, Chefreporter des Hessischen Rundfunks und Gründer des Netzwerks Recherche.

Tatsächlich übernehmen aber immer mehr Redaktionen das, was ihnen die Pressestellen von Politikern, Unternehmen und Institutionen so liefern. Claudia Riesmeyer untersuchte anhand der Thüringer Allgemeinen "Journalismus zwischen Anspruch und Wirklichkeit". Dabei fand sie heraus, dass an den Lokalteil innerhalb einer Woche 331 Pressemitteilungen, Ankündigungen und Einladungen geschickt werden, von denen 29,6 Prozent in irgendeiner Form, meist als kurze Information, gebracht wurden. Nur selten wurden die Texte verändert, meist wurden sie inhaltlich übernommen.

Kerstin Engels vom Hans-Bredow-Institut, die Medienjournalisten befragte, stellte fest, dass die Fernsehkritik allmählich ausstirbt: Sie wird durch die simple Programmempfehlung verdrängt. Was PR anging, war das Propagandaministerium unter Josef Goebbels höchst modern: Die Nationalsozialisten begründeten ihre Anweisungen an die Presse gar nicht so oft ideologisch, sondern nach bis heute gültigen Kriterien der Nachrichtenauswahl. Eher deprimierend ist, dass die Journalisten in der NS-Zeit vor lauter Eifer oft auch noch übers Ziel hinausschossen und dann sogar zurückgepfiffen werden mussten, wie der Dortmunder Professor Horst Pöttker anhand von Mitschriften der NS-Presseanweisungen herausgefunden hat.

Geld oder gute Worte?

Was das alles mit Qualität der Medien zu tun hat? Siegfried Weischenberg wies darauf hin: Wenn von Qualität gesprochen wird, verstehen Journalisten oft "mehr Geld", die Verleger hingegen eher "gute Worte". Vieles, was unter dem Label "Qualitätssicherung" daherkommt, soll eigentlich Einsparungen bringen. In weiteren Vorträgen stellte Klaus Meier, Leiter des Studiengangs "Online-Journalismus" in Darmstadt, vor, wie die österreichische Presseagentur APA rationeller arbeiten will: Indem sie einen Newsdesk einrichtet und ihren Redaktionsraum zum Newsroom mit kürzeren Wegen umbaut.

Dass ausgerechnet die Online-Redaktionen, obwohl personell am geringsten besetzt, den meisten Output im trimedialen Konzert Print-Online-TV liefern, hat Wiebke Loosen bei einer vergleichenden Untersuchung von Spiegel, Stern und Focus herausgefunden. Andrea Sellmann und Volker Gehrau verglichen klassische Fernsehteams und Videojournalisten (VJs) bei der Arbeit und fanden heraus, dass die gestalterische Qualität bei den VJ-Einzelkämpfern höher ist als bei den Teams.

Die Medienwissenschaften gaben sich also recht praxisnah auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaften. Trotzdem hatten die Praktiker, die zum Abschluss der Tagung zum Round-Table-Gespräch gebeten wurden, noch einen Seitenhieb für sie bereit: Fast alle Medienmanager, die hier Rede und Antwort standen, vom NDR-Kulturchef über den dpa-Chef bis zum Musikmanager, hatten keine einschlägige Ausbildung, oft ihr Studium abgebrochen, waren als Quereinsteiger erfolgreich. Es geht offenbar doch nichts darüber, einfach hinzugehen und mit den Leuten zu reden.