Frames und Tilden

Das volkstümliche Web Teil IV

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Das W3 Consortium stellt das Thema folgendermaßen dar:

"HTML-Frames ermöglichen die Darstellung von Dokumenten in mehreren Ansichten, die sich in unabhängigen Fenstern oder Unterfenstern befinden. Diese Ansichten eröffnen Gestaltern eine Möglichkeit, bestimmte Informationen sichtbar zu halten während der Inhalt anderer Ansichten verschoben oder ausgetauscht wird. Beispielsweise kann in einem Browserfenster ein Frame ein statisches Banner enthalten, ein zweites das Navigationsmenü und ein drittes das Hauptdokument, welches über Rollbalken verschoben oder durch Navigation im zweiten Frame ausgetauscht werden kann."

Obwohl sich diese Beschreibung auch für Designer sehr vernünftig anhört, kommen im Bewusstsein der Massen Frames aus der Welt der Amateure. Nach der Einführung von Netscape 2 wurden sie mit großem Enthusiasmus sowohl im professionellen wie auch im volkstümlichen Web eingesetzt und gehören meiner Meinung nach auch genau in diese Periode. Ich würde sie hier nicht einmal sonderlich erwähnen, wiesen sie nicht zwei wichtige Eigenschaften auf:

Erstens sind Frames ein Allerweltsthema, wohl das einzige Element der Hypertext Markup Language, zu dem wirklich jeder etwas zu sagen hat. Wenn es um Frames geht, scheinen Profis, Amateure, alte Hasen und Neulinge auf dem gleichen Niveau verhandeln zu dürfen, denn jeder hat Erfahrungen mit Frames gemacht und einen ironischen Kommentar auf Lager. Sie sind wahre Web-Folklore.

Should you use frames?. Dies ist einer der Fragen, die von der Redaktion von designtimeline.org ans Publikum gestellt wurden. Sie erhielt die meisten Antworten im System. In ein paar tausend Jahren, wenn Archäologen oder Außerirdische unsere Datenspeicher rekonstruieren, werden sie schlussfolgern müssen, dass das "WWW" hauptsächlich aus "Frames" bestanden haben muss.

Zweitens erzeugen Frames ein auffälliges visuelles Muster: Wenn im Bereich des Grafikdesign Anspielungen oder Referenzen auf Webdesign vorgenommen werden, wird in den meisten Fällen ein frameartiges Layout verwendet (beispielsweise in Print-Anzeigen für amazon.com oder Billigfluglinien, die größtenteils übers Web arbeiten). Die Unterteilung einer Fläche in Frame-Segmente steht für "Web", ähnlich wie eine Punkt-Anzeige für Videospiele steht oder der blinkende Cursor auf der Kommandozeile für Hacker, wie man sie aus Hollywood-Filmen kennt.

2003 feierten Studenten der Merz Akademie die First Ten Years des WWW mit einer Ausstellung eigens angefertigter Objekte, die Meilensteine in der Geschichte des Web symbolisierten. Die Würdigung der Hintergrundmuster bestand aus großen Brettern mit richtiger Tapete (von OBI), die in der Form von Frames aufgeklebt wurde. Selbst diese simple Konstruktion ist deutlich als Skelett einer Webseite zu erkennen.

Obwohl Frames nicht mehr häufig zum Einsatz kommen, sind sie ein natürlicher Bestandteil des Webdesigns, der noch prägnanter aussieht als die klassischen Tabellen-Layouts.

Die Tilde

Bekanntlich verwenden Multiuser-Unix-Systeme die Tilde "~" als Abkürzung zum "/home"-Verzeichnis, in dem jeder Benutzer ein eigenes Unterverzeichnis mit seinen Dateien besitzt. In der Tilde manifestierte sich auch die Macht des Systems: Als User darf man nur mit den Dingen, die hinter der Tilde stehen, hantieren, auf da, was davor kommt, hat man keinen Einfluss.

So steckt man quasi in der Peripherie fest - und das ist auch noch für die ganze Welt in der URL sichtbar: Ein kurzer Blick auf die Adresszeile des Browsers und schon offenbaren sich verschiedene peinliche Abhängigkeiten, beispielsweise über welche Institution oder Provider der Autor einer Homepage angebunden ist. Und das im hierarchielosen Medium Internet. Deshalb war es wichtig, die Tilde loszuwerden.

1997 arbeitete ich in einem Designbüro in Moskau, neben Lohn und anderen Vergütungen wie kostenloser Internetanbindung wurde mir versprochen, dass ich meine Dateien auf dem Webserver ohne eine Tilde in der URL ablegen konnte.

Nach einem Jahr www.cityline.ru/~olialia/ wurde aus mir design.ru/olialia. Die Tilde wurde entfernt und ich war Mitglied des Teams. Aber ohne Tilde ist man gleichzeitig freier und unabhängiger, weil dann nicht mehr vollständig klar ist, in welcher Beziehung man zur restlichen URL steht.

Damals war der nächste logische Schritt (heute ist es der erste logische Schritt), eine Domäne zu registrieren. Technisch ist man immer noch der gleiche User auf demselben Server und hat immer noch auf nur einen Ordner begrenzte Zugriffsrechte, aber es sieht wesentlich besser aus: Der "nick" wird zu einem richtigen "name", der vom internationalen Domain Name Service anerkannt wird. - Außerdem verspricht eine registrierte Domäne geschäftlichen Erfolg!

Inzwischen ist es recht problematisch, eine Tilde vor dem Namen stehen zu haben, weil kaum jemand mehr weiß, wie man sie eintippt. Deutsche Apple-Computer haben sie nicht einmal auf der Tastatur. Um "~" einzugeben, muss man Alt und N zur gleichen Zeit drücken, dann beide Tasten loslassen und schließlich die Leertaste drücken. Selbst wer das Geheimnis kennt, vergisst es ständig. Solche Komplikationen lassen die Tilde in mysteriösem Glanz erstrahlen und machen sie zu einer süßen verbotenen Frucht. Sicher wird sie in URLs demnächst als extrem cool gelten und Kompetenz symbolisieren.

Tatsächlich haben die wirklich Coolen die Tilde nie entfernt:

www.well.com/~cuba/
www.zi.biologie.uni-muenchen.de/~franke/

Immerhin kann so eine Adresse auch einige positive Dinge aussagen: Es könnte sich um das persönliche Verzeichnis auf einem Projektserver handeln, oder man ist Teil einer Community, oder residiert auf der Maschine eines Freundes. Außerdem ist das Wort nach der Tilde der Login-Name und deutet so an, dass die entsprechende Person auch mit FTP, SSH und dergleichen umzugehen weiß. All das erschließt sich einem Publikum, das die URL zu lesen weiß.

Übersetzt von Dragan Espenschied