Elektronische Papiertiger

Elektronische Zeitungen schneiden in der Ökobilanz schlecht ab und können den 20- bis 40-fachen Energiebedarf einer konventionellen, papiernen Zeitung verschlingen

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Mit dem Siegeszug des Computers gingen unmittelbar ökologische Jubelrufe einher. Vom papierlosen Büro war die Rede, vom Einschmelzen aller Ablagefächer aus Plastik und vom Niedergang der Graphitindustrie. Künftig würden alle Dokumente nur noch immateriell als Bitfolge auf den surrenden Festplatten der PCs lagern und bei Bedarf auf dem Monitor erscheinen. Nie wieder DIN-A4, rettet den Regenwald - welch ein Irrtum! Denn das Gegenteil trat ein. Scheinbar verlangt jedes gut geführte Büro dieser Welt einen ordentlichen und geflissentlich abgehefteten Ausdruck jedes einzelnen Dokuments für sein ausgeklügeltes Ablagesystem, schon aus rechtlichen Gründen. Das papierlose Büro entpuppte sich schnell als Schimäre, als ein von Technikapologeten in die Welt gesetztes Gerücht.

Schon aus diesem Grund müsste elektronischen Zeitungen, so genannte E-Paper, wie sie die Verlage seit geraumer Zeit meist als PDF-Dokument auf ihrer Website anbieten, mit ausgesprochener Skepsis begegnet werden. Zwar treten sie erneut mit dem Gestus der Umwelt- und Ressourcenschonung auf, doch wer liest schon ernsthaft Zeitungsartikel auf dem Monitor?

Die Chance, dass viele Texte auf Papier ausgedruckt werden und dieses dann womöglich ungelesen vergilbt, ist entsprechend hoch und zumindest in ökologischer Hinsicht schlecht zu rechtfertigen. Doch nun kommt es noch schlimmer: Das Berliner Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung hat in seiner aktuellen, 86-seitigen Studien E-Paper – Erste Abschätzung der Umweltauswirkung herausgefunden, dass elektronische Zeitungen, selbst wenn sie nicht ausgedruckt werden, unter ökobilanzieller Betrachtung schlecht abschneiden. Sie verschlingen zu viel Energie (vgl. auch E-Paper - eine ökologische Sünde?).

Das muss erstaunen, denn gemeinhin gelten E-Paper-Technologien als energieeffizient und ökologisch vorteilhaft. Das Forschungsergebnis bezieht sich denn auch nicht so sehr auf den Produktionsprozess von E-Paper und den (vergleichsweise geringen) Energieaufwand, der dafür benötigt wird, sondern auf die Distribution. Die meisten Geschäftsmodelle von E-Paper basieren auf Download-Verfahren, entweder über PC und Internet oder via Laptop beziehungsweise PDA und Mobilfunk. Für beide Verfahren kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass von einer 10- bis 40-fach höheren Umweltbelastung gegenüber dem Lesen einer gedruckten Zeitung auszugehen ist. Insbesondere die Distribution von personalisierten Daten, das heißt, wenn bestimmte Zeitungsrubriken in Form von Abonnements auf ein mobiles Lesegerät via UMTS gelangen, schneidet schlecht ab, da das UMTS-Netz ungleich mehr Energie benötigt als vergleichbare Funknetze. IZT-Mitarbeiter Christian Kamburow, verantwortlich für die Ökobilanz, sagt dazu:

Wird UMTS-Mobilfunk genutzt, können die ökologischen Vorteile der zukünftigen mobilen e-Paper-Endgeräte durch die Möglichkeit, individuell zugeschnittene Zeitungsinhalte via UMTS überall und jederzeit mit großem Energieaufwand verfügbar zu machen, überkompensiert werden. Dies macht aus ökologischer Sicht diese Form der Verbreitung der elektronischen Zeitung über das Mobilfunknetz unvorteilhaft.

In derselben Studie schlagen die Autoren Alternativen zum gegenwärtigen Mobilfunk als Distributionsmedium vor: den Rundfunk. Mit den digitalen Rundfunknetzen DAB (Digital Audio Broadcasting) und DVB-T (Digital Video Broadcasting – Terrestrial) stünden zwei Distributionswege zur Verfügung, die ein deutlich niedrigeres Energieniveau für dieselben Funktionen verlangten. Erst durch die Kombination der niedrigen Energiebilanz für die Herstellung digitaler E-Paper mit dem niedrigen Energieaufwand für die Datenübertragung mittels digitaler Rundfunknetze seien energiepolitische Vorteile gegenüber der konventionellen Produktion und Verbreitung von Zeitungen zu erzielen.

Die Studie ist übrigens nicht vom Bundesverband der Zeitungsverleger (BDZV) in Auftrag gegeben worden, sondern entstand im Rahmen des Projektes "E-nnovation: E-Business und nachhaltige Produktnutzung durch mobile Multimediadienste" am Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).

Vor diesem Hintergrund dürfte sich die Akzeptanzfrage von digitalen Tageszeitungen und Zeitschriften sowie weiteren E-Paper-Applikationen, wie zum Beispiel E-Books, abermals verschärfen; auch dies sprechen die Autoren an. Bislang kann nämlich keine Rede davon sein, dass E-Paper eine ernsthafte Konkurrenz für Zeitungspapier ist. Die mobilen Lesegeräte sind entweder sehr klein (wie PDAs) und somit schlecht zu lesen oder zu groß (wie Laptops), um sie überall mitzuschleppen. Hinzu kommt, dass die Konsumenten immer noch nicht einsehen wollen, für Inhalte aus dem Netz zu bezahlen, ganz zu schweigen davon, sich teure Lesegeräte anzuschaffen. Obendrein geraten nun auch noch die Umwelteigenschaften von E-Paper in Verruf, so dass IZT-Projektleiter Siegfried Behrendt an die Politik appelliert, "Umweltaspekte früh zu berücksichtigen":

Werden Umweltaspekte nicht oder nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt, ist eher wahrscheinlich, dass die e-Paper-Technologie im Falle einer Massenverbreitung den Energieverbrauch drastisch ansteigen lässt und somit den internationalen Bemühungen zum globalen Klimaschutz, zu dem sich auch die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet hat, entgegenläuft.

Es sieht folglich ganz danach aus, als bleibe das papierlose Büro auf unabsehbare Zeit weiterhin eine Schimäre und E-Paper ein typisches Beispiel für ein zeitgenössisches Paradox. Gemäß Gottfried Wilhelm Leibniz strebt zwar "alles Mögliche nach Existenz", doch der Konsument will nicht für alles Mögliche Geld ausgeben.