Von der Wahrheit auf den ersten Blick

Überzeugungen sind immun gegen Berichtigungen, haben Psychologen anhand von Medienberichten zum Irak-Krieg 2003 festgestellt

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Möglicherweise geht es den Menschen mit der Wahrheit so ähnlich wie mit der Liebe auf den ersten Blick. Was sie zuerst - im buchstäblichen Wortsinn - wahrgenommen haben, wird kaum mehr hinterfragt. Stattdessen dienen künftige Informationen dazu, die ursprüngliche Wahrnehmung zu bestätigen. Das ist in etwa das Ergebnis, das Psychologen in einer Studie über Medienberichte zum Irak-Krieg herausgefunden haben.

Die Studie Memory for Fact, Fiction, and Misinformation: The Iraq War 2003, die in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Psychological Science veröffentlicht wurde, ging davon aus, dass die Berichterstattung über den Irak-Krieg durch zahlreiche falsche Informationen, Korrekturen und Zurücknahmen von Meldungen charakterisiert war. Immer einmal wieder gab es so beispielsweise Berichte über den Fund der angeblich im Irak befindlichen Massenvernichtungswaffen, die sich dann aber regelmäßig als falsch erwiesen und meist auch explizit zurück gezogen wurden.

Stephan Lewandowsky und Werner G.K. Stritzke von University of Western Australia; Klaus Oberauer von der Universität Potsdam und Michael Morales von der Plattsburgh State University of New York befragten Studenten an fünf Universitäten in Australien, Deutschland und den USA, um zu überprüfen, wie sich Richtigstellungen von Berichten aus der Zeit von Mitte April bis Anfang Mai auf die Erinnerung an medial übermittelte Kriegsereignisse auswirken. Dazu legten sie den Studenten Aussagen über wahre Ereignisse (z.B. A 19-year-old female U.S. Prisoner ofWar was rescued from an Iraqi hospital by Special Forces and flown out of Iraq for medical treatment)., über Ereignisse, die zunächst als Tatsachen präsentiert, dann aber als falsch dargestellt wurden (Allied POW's (Prisoners of War) were executed by the Iraqis after being captured and/or surrendering), und über frei erfundene Ereignisse vor, die aber unter den gegebenen Bedingungen hätten plausibel sein können (Captured Iraqi militia led allied forces to a store of plastic explosives fitted inside bicycle frames to be detonated by suicide bombers at allied checkpoints). Die Studenten mussten angeben, ob sie sich an die Ereignisse erinnern, und sollten die Wahrscheinlichkeit angeben, mit der für sie die Aussagen zutreffen.

Als Ergebnis bestätigte sich, dass Menschen weiterhin an Erinnerungen festhalten, auch wenn sich diese später als falsch herausgestellt haben, sofern ihnen diese zunächst als Tatsachen präsentiert wurden und die Korrektur nicht mit einer alternativen Interpretation einhergeht. Das betraf vor allem die amerikanischen Studenten, während bei den deutschen und australischen Studenten die Berichte über falsche Informationen sehr viel stärker zur Kenntnis genommen wurden. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass bei Menschen, die wie in diesem Fall die amerikanischen Studenten von der Berechtigung des Krieges überzeugt waren, weitere bestätigende Berichte diese Überzeugung und damit Scheinerinnerungen stärkten, während neue Nachrichten, die Meldungen korrigieren, zu keinen Veränderungen der Einstellung führten. Bei Menschen, die - wie viele Deutsche und Australier - dem Krieg gegenüber eher kritisch eingestellt waren, ergab sich der gegenläufige Effekt. Bei ihnen verstärkten die widerlegten Berichte die Skepsis.

Wir haben festgestellt, dass die Menschen, die gegenüber den hinter dem Krieg stehenden Motiven skeptisch waren, erfolgreich falsche Informationen als unwahr betrachten konnten, während diejenigen, die davon ausgingen, dass der Krieg geführt wurde, um Massenvernichtungswaffen zu zerstören, eher die als falsch erwiesene ursprüngliche Version der Ereignisse nicht als unwahr einstuften. Weil sie insgesamt weniger misstrauisch waren, achteten die Partizipanten in den USA weniger auf die Korrekturen von Falschinformationen als diejenigen in Australien und Deutschland.

Ein sich selbst verstärkender Mechanismus

Die Resistenz gegen Nachrichten, die die ursprünglichen Überzeugungen widerlegen, scheint dabei tief zu gehen und auf eine kognitive Dissonanz hinzuweisen. So berichten die Forscher, dass praktisch alle Befragten richtig angaben, dass keine Massenvernichtungswaffen im Irak gefunden wurden. Dennoch habe "eine beachtliche Minderheit der Amerikaner eine Scheinerinnerung präsentiert, dass sie doch gefunden worden seien". Das bestätigt das Ergebnis einer anderen Untersuchung und "erklärt" gewissermaßen, warum eine Regierung sich halten kann, obgleich sie die Wahrheit manipuliert (Bush-Anhänger zeichnen sich durch Realitätsausblendung aus). Man muss nur schnell genug sein, um eine Behauptung als erster zu publizieren und dann dabei bleiben, auch wenn die Behauptung längst widerlegt wurde.

Die Studenten in Ländern mit höherer Skepsis gehen zwar zunächst auch von der Wahrheit der Nachrichten aus, können aber eher akzeptieren, wenn sie sich als falsch erweisen. Gleichwohl könnte der dahinter stehende kognitive Mechanismus derselbe sein: Man unterwirft sich der vermuteten Mehrheit und gehorcht dem Konformitätsdruck, der zu einer selektiven Aufnahme und vor alle Bewertung von Informationen führt.

Die Psychologen haben allerdings stärker auf die Ausbildung falscher Erinnerungen ihre Aufmerksamkeit gelegt. So ziehen sie folgende Schlussfolgerungen aus ihrer Studie: Die Wiederholung von Medienberichten trägt, auch wenn sie als falsch widerlegt werden, zur Ausbildung falscher Erinnerungen bei. Bedenklicher stimmt allerdings die zweite Schlussfolgerung, dass Richtigstellungen eigentlich nichts an den Überzeugungen ändern, wenn die Menschen nicht schon misstrauisch sind. Auch das ist ein selbstverstärkender Mechanismus, der einer vorurteilsfreien Aufklärung keine großen Chancen einräumt. Zumal wenn man die dritte Folgerung berücksichtigt, nämlich dass die Menschen Korrekturen unabhängig von der Gewissheit ignorieren, dass eine Nachricht berichtigt wurde. Die Wahrheit, so müsste man sagen, ist unwichtig, entscheidend ist, ob etwas in das Weltbild passt und es bestätigt.

Danach wäre freilich die ganze Aufregung über den Artikel von Newsweek völlig absurd. Egal, ob es stimmt oder nicht, dass bei Verhören in Guantanamo Koran-Ausgaben in die Toilette gesteckt wurden, wird jeder in seiner Sicht der Dinge bestätigt. Für die einen ist es ein Beweis für den Kreuzzug gegen den Islam und die Repression der Muslims in Guantanamo und anderswo, für die anderen eine Falschmeldung, die das Ansehen der USA ohne Anlass verunglimpft. Eine Position dazwischen gibt es nur für Außenstehende - zumindest, wenn es stimmt, dass die Menschen im Prinzip gegenüber der Wahrheit immun sind, wenn sie der Überzeugung zuwiderläuft.