Manipulationen, Wahlkampf und ein Wiki

Wie ein Wikipedia-Edit zum Politikum wurde

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Seit zwei Tagen schallt es durch die Blogosphäre und Online-Medien: Zensur, Angriff, Manipulationsanschlag. Die CDU hat offenbar zum Großangriff auf die Wikipedia geblasen. Doch die Episode zeigt lediglich, wie schnell im Wahlkampf Nicht-Ereignisse zu einem Politikum werden.

Die Geschichte nahm ihren Anfang am Dienstag dieser Woche. Der Rechtsanwalt Alexander A.T. Klimke, in der Wikipedia als Berlin-Jurist unterwegs, entdeckte im Wikipedia-Artikel über Jürgen Rüttgers vier Änderungen in einer Viertelstunde. An sich ist das nicht ungewöhnlich: Schließlich wird am Sonntag in Nordrhein-Westfalen gewählt und Jürgen Rüttgers ist der Spitzenkandidat der CDU. Für viele Wikipedianer Anlass genug, die bis dahin eher knapp gehaltenen Artikel auszubauen und vermeintliche Parteilichkeiten zu tilgen.

Doch die Änderungen vom frühen Dienstag Nachmittag hatten ein prominentes Alleinstellungsmerkmal: Sie hatten ihren Ursprung im IP-Netz des Bundestages. Noch mehr: Auch der Artikel über Rüttgers Kontrahenten und amtierenden Ministerpräsidenten Peer Steinbrück wurde geändert: Eine Liste der Ehrenämter Steinbrücks wurde mit der neuen Überschrift "Nebentätigkeiten" versehen.

Nüchtern betrachtet sind diese Änderungen alles andere als aufsehenerregend. Jeder kann, ohne sich anzumelden, bei der Wikipedia Artikel ändern - Parteien und deren Sympathisanten sind von der Möglichkeit nicht ausgeschlossen. Zu dem Zeitpunkt der vermeintlichen Manipulation wiesen beide Wikipedia-Artikel ein deutliches Ungleichgewicht auf - allerdings zu Gunsten von Peer Steinbrück. Während dieser als einziger Ministerpräsident eine lange Liste von mit dem Amt verbundenen Ehrenämter spendiert bekam, wurde die "politische Position" von Jürgen Rüttgers auf die unrühmliche "Kinder statt Inder"-Episode aus dem Jahr 2000 und einen Talkshowauftritt bei Michel Friedman reduziert. Zwar machten die Änderungen aus dem Bundestags-Netz die Artikel nicht besser, eine großartige Verschlechterung ließ sich aber auch nicht feststellen. Hinzu kam, dass die Beiträge quasi sofort von anderen Wikipedianern rückgängig gemacht wurden. Inzwischen sind die offensichtlich parteiischen Passagen im Zuge der normalen Überarbeitung fast ganz verschwunden - auch ohne weitere dokumentierte Eingriffe von Bundestags-Rechnern.

Doch die Spekulationen schossen schnell ins Kraut: Für viele war sofort klar, dass hier die CDU einen Eingriff an dem Artikel vornahm, um unrühmliche Kapitel aus dem Lebenslauf des eigenen Spitzenkandidaten zu entfernen. Ein Wikipedianer fand per Suchmaschine einen Gästebucheintrag des CDU-Bundestagsabgeordneten Ole Schröder. Doch wie so oft griff die schnelle Googelei zu kurz: die IPs gehören zu zentralen Proxyrechnern des Deutschen Bundestags, auf die nach Schröders Angaben jeder Bundestagsabgeordnete und Mitarbeiter insgesamt zugreifen kann - insgesamt über 6.000 Rechner. Eine eindeutige Identifizierung des Autors ohne Mithilfe der Bundestagsverwaltung fällt daher flach.

Doch an dem Punkt der Diskussion machte die Geschichte schon ihre Runde. Nicht zuletzt das Wahlkampf-Weblog des SPD-Landesverbandes NRW griff die Geschichte auf und verbreitete ohne jeglichen Beweis, aber mit dem Brustton der Überzeugung die unerhörte "CDU-Zensur". Von da an gab es kein Halten mehr - die Geschichte wurde weitergereicht wie warme Semmeln. Dass dabei die Unantastbarkeit der Neutralität der Wikipedia nicht unbedingt immer an erster Stelle stand, zeigt zum Beispiel ein Kommentar des Webloggers DaveKay: "Mir persönlich ist ja jedes Mittel recht um einen Hampelmann Rüttgers an der Spitze zu verhindern, da kam mir der Artikel sehr gelegen."

Nach privaten Weblogs griffen die ersten professionellen Online-Medien die Geschichte auf. Dabei kam es zu Missverständnissen: Silicon.de schrieb zunächst, Wikipedia-Gründer Jimmy Wales habe es sich nie erträumt, dass Parteien in der Wikipedia editieren, obwohl doch die Zusammenarbeit von parteiischen Autoren zu den großen Erfolgsprinzipien des Online-Lexikons gehört. Die Netzeitung machte mit der etwas unglücklichen Überschrift Wikipedia-Eintrag von Rüttgers manipuliert auf und ordnete Diskussionsteilnehmer der CDU zu, nur weil sie die bisherige Fassung des Artikels kritisierten. Der Artikel Wer manipuliert Rüttgers' Wiki-Einträge? bei Spiegel Online erzählte die Geschichte ohne weitere Ausschmückungen, machte den Artikel durch die Verlinkung endgültig zu einem Politikum: die ganze deutsche Online-Welt sah scheinbar auf die zwei Wikipedia-Artikel.

Zunächst harmlose Diskussionsbeiträge auf der Diskussionsseite bekamen plötzlich politisches Gewicht. So sah sich der in der Diskussion erwähnte Abgeordnete Ole Schröder gar am Freitag Nachmittag zu einem offiziellen Dementi genötigt: "Ich missbillige die Änderungen der Einträge von Herrn Rüttgers und Herrn Ministerpräsident Steinbrück. Diese Maßnahmen, von wem auch immer durchgeführt, können beiden Kandidaten um das Amt des Ministerpräsidenten in NRW nur schaden", so Ole Schröder. "Bei aller Aufregung sollten sich aber auch die Nutzer des Forums des Onlinelexikons Wikipedia mit voreiligen Verurteilungen einzelner Personen zurück halten und nach dem Motto 'erst informieren, dann posten' verfahren."