Die Zukunft des Wissens und die verkäufliche Sicherheit

Softwarepatente und die Wissensallmende: Konzepte für die Zukunft der Informationsgesellschaft und Freunde des Schließsports

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„Bevor ihr Leute fotografiert, fragt doch bitte, ob ihr dürft“, diese Parole wurde nicht bei Stammesfeierlichkeiten eines aussterbenden Eingeborenenstammes ausgegeben, sondern bei einem Wochenende der „Datenpiraten“ des „Chaos Computer Clubs“ in Karlsruhe. Alljährlich treffen sich in Karlsruhe bei der aus historischen Gründen "Gulasch-Programmier-Nacht" (diesmal: GPN4) benannten Veranstaltung Mitglieder und Sympathisanten des "Chaos Computer-Club e.V." und seines Karlsruher Ablegers Entropia e.V., um sich über neue Techniken und aktuelle Themen der Informationspolitik auszutauschen.

Beim vierten Treffen dieser Art ging es nicht nur um biometrische Daten auf Personalsausweisen oder neue Programmiersprachen, Internet-Telefonie und Podcasting auf Linux sondern auch um Themen, die den Bestand der deutschen und europäischen Softwarebranche und die Zukunft der Wissensgesellschaft berühren.

Softwarepatente gefährden den Bestand von Unternehmen

Julian Finn von der globalisierungskritischen Bewegung Attac erklärte den Stand der Dinge beim umstrittenen Thema Softwarepatente: Warum die Tatsache, dass reine Verkettungen von Computerbefehlen Erfindungsstatus genießen sollen, die Innovation hemmt und warum EU wie Drittweltländer durch Softwarepatente benachteiligt werden und nur große Firmen profitieren.

Mate-Tee in Flaschen mit 20 Milligramm Koffein hält die Gehirne in Programmiernächten wach. (Bild: Oliver Gassner)

Software-Innovation bedeutet meist, dass bekannten Anwendungstypen – beispielsweise Textverarbeitungsprogrammen – neue Funktionen hinzugefügt werden. Falls aber alle alten Funktionen der Programme nur gegen Zahlung hoher Lizenzgebühren in ein neues Programm eingebaut werden dürfen, ist damit gleichzeitig verhindert, dass neue Firmen sich Märkte erobern können. Freie Softwareangebote wie das Betriebssystem Linux oder die kostenlose Büro-Software Open Office wären damit in Zukunft unmöglich.

Die EU sieht alt aus: Die Patente horten andere

80 Prozent aller Softwarepatente gehören Firmen außerhalb der EU und Drittweltländer halten gar nur ein Prozent der begehrten Erfindungs-Bescheinigungen in Händen. Deren Rückstand würde weiter verstärkt und die Firmen der EU wären der Gnade der Patent-Eigner ausgeliefert.

Während die EU-Kommission den Patentplänen positiv gegenübersteht und eine Harmionisierung mit US-Recht anstrebt, formiert sich in Politik und Wirtschaft Widerstand: Der deutsche Bundestag hat die Regierung angewiesen, gegen die Patentregelung zu stimmen, kleine und mittlere Softwareunternehmen schließen sich gegen die Regelung zusammen, denn sie könnten im Gegensatz zu den großen Konzernen die Kosten für Patentanmeldung, Patentrecherche und gegebenenfalls Patentklagen nicht verkraften. 15.000 bis 50.000 Euro Kosten fallen bei Patentanmeldung oder Patentstreit an. Beim Hacker-Treffen wurde diskutiert, ob sich nicht die Entwickler von Gratissoftware zu einer Genossenschaft zusammenschließen könnten, um ihre Patente anzumelden und zu finanzieren.

Wie messen Hacker die Zeit? Ganz klar: Mit der Höhe des Pizzakartonstapels, hier der Stapel her früh am Abend. (Bild: Oliver Gassner)

Was die EU unbeweglich macht – das komplexe System von Kommission, Ministerrat und Parlament – ist jetzt die Chance der Patentgegner: "Ich sehe eine gute Chance, über Änderungsanträge und Lobbyarbeit eine vertretbare Regelung zu erreichen, welche Software-Erfindungen patentierbar sein solle und welche nicht", ist die Einschätzung des Attac-Experten Julian Finn. Man will erreichen, dass nur solche Software, die im engen Kontakt mit der Manipulation physikalischer Wirklichkeit steht, wie bei Temperatursteuerungen und ähnlichem, Patentstatus erlangen kann und dass es nicht wieder passieren soll, dass reine Software-Verfahren wie der „Ein-Klick-Einkauf“ von Firmen wie Amazon patentiert werden können.

Lizenzen für alle

In den USA versucht man nicht nur die Software besser zu vermarkten: 1998 wurde auch der Copyrightschutz für geistiges Eigentum massiv erweitert. Eine Erweiterung, die auf Kritik von Juristenkreisen um den Stanford-Professor Lawrence Lessig stieß, der die Zukunft der Wissensgesellschaft durch die restriktive Lizenzierung der Inhalte gefährdet sieht. Als Reaktion darauf entwickelte er die sogenannten "Lizenzen der schöpferischen Allmende" (Creative Commons, CC), die – gleich der gemeinsamen Nutzung von Weideland im Mittelalter (Allmende) – eine gemeinsame Nutzung freigegebenen Wissens ermöglichen soll. Diese Lizenzen erlauben unter bestimmten Bedingungen die kostenlose Nutzung schöpferischer Inhalte anderer: Für Texte, Bilder, Musik und Filme ist das "Erlaubnismodell" der CC geeignet.

Wer Computer bedienen kann, der braucht bei einfachen Geräten wie bei Aufzügen klare Anweisungen, wie hier bei der Hacker-Tagung des Entropia e.V. an der Fachhochschule Karlsruhe. . Nicht nur Informationspolitik und Datenschutz waren die Themen der dreitägigen Veranstaltung sondern auch der „Schließsport“. (Bild: Oliver Gassner)

Nicola Apicella vom Entropia e.V. führte auf der Karlsruher Hackertagung in Geschichte und Entwicklung der Creative-Commons-Lizenzen ein und zeigte, wie einfach es für Inhaber von Rechten ist, genau zu bestimmen, was Dritte mit seinen Werken zu welchen Bedingungen anfangen dürfen. Darf der Nutzer mit meinen Inhalten Geld verdienen oder nicht? Darf er mein Werk verändern, kürzen oder ergänzen? Zwei Dinge stehen felsenfest: Der Name des Urhebers muss immer angegeben werden und eine Weiterverwendung der Inhalte darf nur geschehen, wenn dieselbe Erlaubniskombination dem neuen Werk als Lizenzbedingung beigegeben wird.

Wissensallmende international

Die Creative-Commons-Lizenzen liegen angepasst an die Gesetzeslage von bisher 17 Ländern vor und in 12 weitern Ländern sind sie in Arbeit. Parallel dazu gibt es sie in einfacher Form, so dass sie auch für Laien verständlich sind.

Sogar Suchmaschinen können inzwischen gezielt nach solchen freigegebenen Inhalten suchen. Lessig selbst und andere Autoren, wie der als Star-Trek-"Wesley" bekannte Schauspieler Wil Wheaton geben selbst ihre gedruckten Bücher unter CC-Lizenzen frei und die US-Elitehochschule MIT stellt Lehrmaterialien unter CC kostenlos online zur Verfügung.

Der Sport mit dem Klick

Loubna und Clemens Oberwinter erklären und demonstrierten beim jährlichen Treffen des Entropia e.V. das „Entsperren“ von Schlössern (engl. Lockpicking für „Stochern im Schloss“) ohne den Schlüssel zu benutzen. Immerhin fördert der CCC laut Satzung „Vorhaben der Bildung und Volksbildung in Hinsicht neuer technischer Entwicklungen“.

Was hinter Schloss und Riegel ist, das interessiert die „Sportsfreunde für Sperrtechnik e.V.“. Allerdings nicht, um es sich anzueignen sondern lediglich aus sportlichem Interesse und technischer Faszination. (Bild: Oliver Gassner)

Eigentlich sind die Oberwinters auch beim Club der Sportfreunde der Sperrtechnik e.V., der 1997 von einem prominenten CCC-Mitglied gegründet worden war, um in verschiedenen Disziplinen das Schloss-Öffnen zu betreiben: Vorhängeschlösser öffnen, Knacken von Schlössern verschiedener Schwierigkeitsgrade und „Impressioning“ – im Wettkampf muss hier in unter 30 Minuten ein funktionierender Schlüssel gefeilt werden.

Als „Freund der Sperrtechnik“ braucht man Fingerspitzengefühl

Hangschloss, Bartschloss, Stiftschloss, Scheibenschloss, Rundschloss, Bohrmuldenschloss: Das Hobby wird nicht langweilig. „Für mich ist es die technische Faszination, die mich zu diesem Hobby treibt. Es ist eine Finger- und Geduldsübung. Mich reizt auch das sofortige Erfolgserlebnis, wenn es Klick macht“, verrät Clemens Oberwinter und breitet das Lederetui mit seiner Werkzeugsammlung von mehreren Dutzend „Stocherern“ aus.

Das „Entsperren“ von Schlössern ohne Schlüssel und ohne sie zu zerstören erfordert Übung. Ein aufgefrästes Übungsschloss der „Sportsfreunde für Sperrtechnik e.V.“ gewährt Einblicke in das Innenleben eines Schließzylinders. (Bild: Oliver Gassner)

Was hat nun das sanfte Öffnen von Schlössern mit den computertechnischen und informationspolitischen Initiativen des CCC zu tun? "Die Industrie macht uns Angst und verkauft uns dann ein Gefühl der Sicherheit, denn Sicherheit ist immer nur ein Gefühl und nicht objektiv", erklärt Loubna Oberwinter, eine Informatikerin, die die Karlsruher Schließsportler anleitet. Ihr Mann Clemens ergänzt: "Ein Schloss ist immer besser als gar keines, aber wenn jemand sich von dem Schloss gestört fühlt, dann bekommt er es nach einiger Übung auch auf."

Und die Übung kann man sich auf dem dreitägigen Treffen aneignen: Spanner ansetzen, und mit dem „Pick“, der etwas an ein Zahnarztinstrument erinnert, im Schlüsselloch stochern und dabei die Stifte, die sonst der Schlüssel in die richtige Position bringt, mit Geduld und Geschick so anordnen, dass das Schloss aufspringt. Mal passiert das nach nur zehn Sekunden, mal verschwendet man einen ganzen Abend vergeblich an ein Schloss. Es gibt bei den Oberwinters auch einiges zu lernen, zum Beispiel, dass Schlösser von Schließanlagen eher einfacher aufzumachen sind als andere und dass „dicke“ Schlösser genauso leicht zu picken sind, wie vermeintlich „schwache“.

Man kann Schlösser mit dem Schlüssel öffnen oder mit sportlichem Ehrgeiz und Fingerspitzengefühl an die Sache herangehen – und mit dem richtigen Werkzeug, wie die„Sportsfreunde für Sperrtechnik e.V.“ (Bild: Oliver Gassner)

In letzter Zeit hat man sich neue Zielgruppen erschlossen: Pfadfindergruppen machen bei den Meisterschaften mit, die es in Deutschland und Holland bereits gibt. Und eine christliche Freizeitgruppe aus Norddeutschland schickt ebenfalls Vertreter zu Wettkämpfen. Lockpicking wird offenbar zum Breitensport.

Ethik über alles

Die Schließsportler achten auf die korrekte Ethik: Es werden nur eigene Schlösser geöffnet oder es wird mit Erlaubnis „gepickt“. Alle Gesetze sind einzuhalten. Sportgruppenleiterin Loubna Oberwinter ist streng und nimmt kein Blatt vor den Mund: "Wenn jemand was Kriminelles macht, dann habe ich keine Hemmungen, ihn anzuzeigen." Die Hamburger und Berliner Schließsportler arbeiteten sogar mit dem Berliner LKA an einer Forensik-Studie. Es sollte untersucht werden, welche typischen Spuren beim Picken hinterlassen werden. Man schult auch Flughafenpersonal, das Kofferschlösser vom Reisenden unbemerkt öffnen muss, wenn das Röntgenbild Verdächtiges zeigt.

Kriminelle machen es anders

Doch für Kriminelle ist Lockpicking uninteressant. In den allermeisten Fällen werden Schlösser nicht mit Picks geöffnet sondern gewaltsam aufgebrochen oder eher noch umgangen. Eher für Schlüsseldienste und Schlosshersteller ist die Arbeit der Schloss-Hobbyisten interessant: „Die Firmen schicken uns sogar Schlösser und bitten uns, sie zu picken und zu erklären, wie wir das machen“, erklärt Clemens Oberwinter.

So machen sich die Sportler das Leben selbst immer schwerer, aber eben auch anderen, die Schlösser unauffällig überwinden wollen. So steigt nicht nur das Gefühl der Sicherheit – auch die Chancen für Verfolgungsbehörden oder Geheimdienste, unerkannt in die Privatsphäre einzudringen, sinken dank der Arbeit der Schlüssel-Hacker. Was der CCC im elektronischen Bereich als Ziel hat – die starke Verschlüsselung digitaler Inhalte und der Schutz der Privatsphäre vor staatlicher Neugierde – das leisten die befreundeten Schließsportler auf ihrem Gebiet.

Alle 14 Tage treffen sich seit drei Jahren die Karlsruher Schließsportler und auch Nichtmitglieder sind herzlich zu den Übungsabenden willkommen. Weitere Gruppen gibt es bundesweit an 17 Orten.

del.ico.us, flickr und RSS

Gut besucht war noch am späten Abend der Vortrag von Beate Paland und Ralf Graf zum Thema „Weblogs: Definition, Beispiele, Technik“. Dabei zeigte sich, wie groß das Netz wirklich ist: Für viele der sonst technikfreundlichen Hacker waren das Tickerformat RSS und ‚social bookmarking’-Dienste wie del.ico.us Neuland. Ralf Graf berichtete, dass ein Hacker, dem er vorschlug, die gerade gemachten Bilder doch bei flickr.com online zu stellen, nicht wusste, wovon die Rede war.