Glanzvolle Vergangenheit, glanzlose Gegenwart

Das Aschenputteldasein der Wissenschaft im heutigen Islam

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Die Wissenschaft in der arabischen Welt blühte im Mittelalter und liegt heute weit hinter dem Westen zurück. Sowohl die islamische als auch die westliche Welt sollten sich ins Bewusstsein rufen, dass die Grundlagen der Renaissance in Europa maßgeblich von arabischen Gelehrten beeinflusst wurde.

Für den Propheten Mohammed (570 – 632 n. Chr.) war der Wissenserwerb eine Form der Lobpreisung Gottes. Er rief die Gläubigen dazu auf, zu forschen und über ihr Wissen zu diskutieren. Die heutigen Führer der arabischen Welt setzen dagegen mehr auf autoritäre Staatsformen und militärische Stärke als auf die Macht des freien Denkens und Diskutierens.

Angeblich leben wir im Zeitalter des Kampfes der Kulturen – oder des Kampfes der Religionen (Kulturkampf als mediale Fehlkonstruktion). Gerade wird nicht nur in Deutschland wieder darüber diskutiert, ob die Türkei wirklich Mitglied der Europäischen Union werden soll und nur allzu oft wird in diesem Zusammenhang als Gegenargument angeführt, dass der islamische Staat nicht zum christlichen Abendland gehört (Zwei zu Eins gegen die EU-Verfassung).

Die Argumente für eine Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen sind bekannt, haben es aber in der öffentlichen Wahrnehmung schwer, sich gegen Vorurteile und Ängste durchzusetzen (Die EU muss weniger christlich werden). Vor allem wird bei der Debatte meistens vergessen, welchen wichtigen Anteil islamische Philosophen auf das europäische Denken hatten. Und auch die Bedeutung von Byzanz, dem oströmischen Reich christlicher Prägung, wird vergessen, dessen Hauptstadt Konstantinopel war, das heutige Istanbul.

Buch-Illustration, die den arabischen Wissenschaftler und Philosophen Ibn-Sina (980 bis 1037), auch Avicenna genannt, beim Gespräch mit anderen in einer Apotheke zeigt

Das Thema der Auseinandersetzung der arabischen Welt mit ihrem wissenschaftlichen Manko steht an. Ende des vergangenen Jahres appellierten in Nature bereits zwei führende Mitglieder des Standing Committee on Scientific and Technological Cooperation der Organization of the Islamic Conference an die islamischen Staaten, ihr Engagement für die Wissenschaften zu verstärken (Wissenschaftliche Forschung ist Dschihad).

In einem Essay in der Zeitschrift Science wirft jetzt der Mediziner Wasim Maziak vom Syrian Center for Tobacco Studies in Aleppo einen Blick auf die glorreiche Vergangenheit der Forschung unter der grünen Fahne des Propheten und erläutert, was die arabischen Staaten tun müssten, um heute wieder Anschluss an den weltweiten Wettbewerb der Forschungsinstitutionen zu bekommen.

Er stellt fest, dass es für den Westen an der Zeit ist, die historischen Verdienste der Araber in diesem Bereich anzuerkennen. Andererseits sollte sich die islamische Welt nicht auf der Erinnerung an vergangene goldene Zeiten ausruhen, sondern die allgemeine Bildung, den freien Fluss von Informationen und die wissenschaftliche Forschung besser fördern.

Unter Mohammed und der Regierungszeit der Abbasiden von 750 bis 1258, besonders während der Regierungszeiten der Kalifen Al-Mansur, Harun Al-Raschid und Al-Mamun, wurden die Wissenschaften großzügig gefördert. Es war eine Epoche großer Toleranz und Weltoffenheit. Schüler von überall her kamen zum Studium nach Bagdad oder Damaskus. Aus der ganzen damals bekannten Welt sammelten die dort ansässigen gelehrten Bücher und Schriften, übersetzten sie und diskutierten die Inhalte. Von den Indern übernahmen die arabischen Gelehrten das Ziffernsystem und die Null, sie entwickelten das Rechnen mit Dezimalbrüchen, die Trigonometrie und die Algebra entscheidend weiter (Quadratische Gleichungen bei al-Khwarizmi). Aber auch andere Wissenschaften wie die Medizin, die Physik, die Botanik oder die Astronomie erlebten eine Blüte.

Universalgelehrte wie Ibn Sina Avicenna, Al-Biruni, Ibn Khaldun oder Ibn Ruschd Averroes beeinflussten das europäische Denken nachhaltig. Übersetzungen der Schriften der antiken Philosophen, speziell des Aristoteles, ermöglichten den mittelalterlichen Christen über diesen Umweg einen neuen Zugang zum logischen Denken und den Weltbildern der alten Griechen.

Über das maurische Königreich in Südspanien entstand ein kultureller Austausch, von dem das christliche Abendland entscheidend profitierte. Andalusische Städte wie Toledo oder Cordoba besaßen große Bibliotheken, in denen auch christliche Studenten ihre Erkenntnisse maßgeblich erweiterten.

Die Alhambra in Granada war die Burg der Mauren, die 1492 von den katholischen Königen aus Spanien vertrieben wurden

Ab dem 14. Jahrhundert ging es bergab mit der arabischen Wissenschaft, dafür bergauf mit der des Westens. Der Orient geriet immer mehr ins Hintertreffen, während der Okzident zunehmend zur Wissensmacht wurde.

Heute ist der Zustand der Forschung in der islamischen Welt beklagenswert, wie einige Zahlen verdeutlichen. Weniger als 10.000 Bücher wurden im vergangenen Jahrhundert ins Arabische übersetzt – so viele wie in einem einzigen Jahr ins Spanische. Kein arabischer Staat gibt mehr als 0,15 Prozent seines Bruttosozialprodukts für wissenschaftliche Forschung aus, der Weltdurchschnitt liegt bei 1,4 Prozent. Zwischen 1980 und 2000 wurden Erfindern in den arabischen Ländern ganze 370 Industrie-Patente erteilt, allein in Süd-Korea waren es im gleichen Zeitraum 16.000. Maziak führt zudem als Beispiel die biomedizinische Forschung an. Weniger als 0,5 Prozent der jüngst in den 200 führenden Medizinzeitschriften erschienen Artikel stammen aus der Feder arabischer Wissenschaftler.

Viele islamische Staaten gehören zu den ärmsten der Welt, Kriegen und Krise beutelten im letzten Jahrhundert nicht nur den Nahen Osten. Aber auch die reichen Ölstaaten am Golf haben sich nie im wissenschaftlichen Bereich profiliert, ganz im Gegenteil. Maziak schreibt:

Reiche Araber glaubten, dass das Ölgeld plus westliche Technologie eine simple Formel für die Industrialisierung und Modernisierung sei. Folglich wurde der Ankauf der neuesten technologischen Produkte oder Anteile an High-Tech-Industrien als Partnerschaft in der technologischen Revolution der modernen Welt missverstanden. Letzten Endes sehen die meisten Araber Wissenschaft als Handelsware, die vom zugrunde liegenden Denkprozess und den soziokulturellen Eigenschaften ihrer Produzenten abgetrennt werden kann.

Die Folge ist, dass Wissen als Produkt betrachtet wird, mit dem Geschäfte gemacht werden können.

Die Medienrevolution mit Satellitenfernsehen und dem Internet hat den westlichen Lebensstil, die westliche Mode, Verhaltensmuster und Werte längst in fast jedes arabische Wohnzimmer getragen. Dieser freie Informationsfluss wird von den meisten Arabern abgelehnt, weil sie damit nicht zurecht kommen. Maziak stellt erstaunlich klar fest:

Für die meisten arabischen Gesellschaften ist diese Riesenwelle von aus allen Richtungen kommendem Inputs – von ihrer konfliktreichen Gegenwart, von der ungerechten Verteilung von Wohlstand und von ihren durch Tyrannen kontrollierten Regimen, die keine Dissidenten dulden – verwirrend, unerbittlich und strapaziös. Die daraus resultierende Frustration wird nach außen in Richtung Westen kanalisiert, in Form von Verachtung und Unterwürfigkeit, und nach innen in der Form eines antagonistischen Weltbildes.

Er plädiert dafür, diese Perspektive zu überwinden und sich auch daran zu erinnern, dass die Weltoffenheit und die Toleranz des frühen Islams die goldene Epoche der Wissenschaft und Kunst ermöglichte. Wenn es asiatischen Gesellschaften möglich ist, mit großen eigenen Anteilen am internatonalen Forschungsboom teilzunehmen, ohne die eigene kulturelle Identität zu verlieren, sollte das auch den Arabern möglich sein.

Demokratische Strukturen als Grundlage

Maziak prangert – für einen Syrer sehr mutig (Siedepunkt unbekannt) – offen das Demokratiedefizit der arabischen Welt an und benennt die Zensur als Hemmschuh für die Forschung:

Wissenschaft gedeiht auf der Freiheit der Recherchen und dem ungehemmten Fluss von Informationen. Die meisten arabischen Gesellschaften werden von Diktatoren regiert, die verschiedene Formen von Zensur ihrer Bürger praktizieren, was zu einer Schwächung demokratischer Institutionen führt. Solche Institutionen sind lebenswichtig für die Entwicklung der Wissenschaft, weil sich die Vielfalt in der Gesellschaft erschließt und sie dadurch weniger dazu neigt, rigide Dogmen und Doktrinen anzunehmen (...), und Wissenschaftler vor sozialem und politischem Druck schützen, wenn sie sensible soziale und kulturelle Bereiche untersuchen, wie zum Beispiel den Einfluss der Polygamie auf die physische und mentale Gesundheit von Frauen. Wenn es stattdessen funktionierende demokratische Institutionen geben würde, wäre es für die Herrschenden auch schwieriger, den Hauptteil des nationalen Einkommens für Waffen auszugeben, während andere Bereiche, inklusive der Wissenschaft, stark unter der fehlenden Förderung leiden.

Die Regierungen sind zudem die Betreiber der meisten wissenschaftlichen Institutionen und das hat oft zur Folge, dass politische Ziele wichtiger sind als die tatsächliche Forschung.

Maziak plädiert dafür, dass die arabische Welt ihren Geist wieder öffnet, um die eigene Unwissenheit und die Rückständigkeit zu überwinden. Wenn arabische Wissenschaftler im internationalen Forschungschor mitsingen, wird ihr kultureller Einfluss automatisch zu- statt abnehmen. Die globale Kultur – und die globale Wissenschaftswelt – könnte dadurch bereichert werden. Und das wäre ganz im Sinne des Propheten Mohammed.