Dritter Weg?

Die Europäische Union auf der Suche nach einem Konzept für Internet Governance

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Am Streit darüber, wie das globale Internet gemanagt werden soll, wäre im Dezember 2003 fast der erste Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS I) gescheitert. Seither bemüht sich eine von UN-Generalsekretär Kofi Annan berufene Working Group on Internet Governance (WGIG) darum, brauchbare Lösungen zu erarbeiten, die beim 2. Weltgipfel im November 2005 in Tunis verabschiedet werden könnten. Die Europäische Union hat drei Regierungsvertreter in dem 40-köpfigen Gremium. Je mehr sich die Arbeit der WGIG ihrem Ende nähert – nach einer letzten Sitzung Mitte Juni in Genf soll der Abschlussbericht am 18. Juli 2005 präsentiert werden – desto mehr schiebt sich die EU in die Rolle eines potentiellen Vermittlers. Gibt es zwischen der US-Position der privaten Selbst-Verwaltung des Internet und der chinesischen Forderung nach staatlicher Kontrolle einen dritten Weg?

An europäischen Gremien ist weiß Gott kein Mangel. Wenn aber der Europäische Rat vor Jahresfrist der Ansicht war, zum Thema Internet noch eine zusätzliche „High Level Group on Internet Governance“ (HLGIG) zu bilden, dann signalisiert das die hohe Priorität, die der EU der Frage widmet, wo und wie sich Europa beim Management der Infrastruktur des Informationszeitalters positioniert. Der „High Level Group“ gehören höhere Beamte der 25 EU-Mitgliedstaaten an, sie begleitet den offenen Multistakeholder Diskussionsprozess der WGIG und sie versucht auch hinter den Kulissen diplomatische Fäden zu ziehen, um den außerordentlich diffizilen Disput in konstruktive Bahnen zu lenken.

Die Ausgangslage ist ebenso klar wie kontrovers. Die einen wollen das Management des Internet der UNO, d.h. einer Regierungsorganisation, unterstellen. Die anderen wollen das in der Hand des privaten Sektors, d.h. der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), belassen (Auf dem Weg zu einer "Internet UNO++"?).

Von der „One Man Show“ zum Weltproblem

Das System des privaten Managements der Kernressourcen des Internet – Root Server, IP Adressen, Internet Protokolle, Domain Namen – hat sich über zwei Jahrzehnte Schritt für Schritt von unten entwickelt. Zunächst hielt ein einziger Mann, Jon Postel, die ganzen Fäden in seinem Büro im Information Science Institute (ISI) der „University of Southern California“ (USC) in Marina del Rey in der Hand. Postel war bereits als Student in die Entwicklung des ARPANET involviert. Später übernahm er von John Crocker die Edition der „RFCs“ (Request for Commets), mit der die Internet Engineering Task Force (IETF) in Form von „Internetprotokollen“ das Internet ordnete. Zwar finanzierte die US-Regierung diese Forschung, aber sie mischte sich weder durch regulatorische Vorschriften noch durch politische Zielsetzungen in den Prozess ein. Bei US-Präsident Ronald Reagan (1980 – 1988) dominierten „Deregulierung“ und „Informationsfreiheit“.

Als die Zahl der registrierten Internet-Domains Ende der 80er Jahre expandierte, folgte Postel einem Rat der George Bush Sen. Administration und institutionalisierte quasi sich selbst durch die Gründung der Internet Assigned Numbers Authority (IANA). IANA war für die Aushändigung von Adressblocks, die Verwaltung der Top-Level-Domains und das Management eines Root Servers zuständig. IANA blieb zunächst eine „One Man Show“, denn so viel Arbeit fiel nun auch wieder nicht an. Postel war auf diese Weise eine Bürde los, denn Teil des Deals mit der IANA-Gründung war, dass das US-Handelsministerium (DOC) die letztendliche Verantwortung und Oberaufsicht für Einträge von Zone Files in den Root Server übernahm.

Was heute zum Stein des Anstoßes wird, hat damals keinen gestört und keine Regierung der Welt interessiert. Als das Internet jedoch in den 90er Jahren auch in Europa explodierte und die Zahl der weltweiten Internet Nutzer bald zehn Millionen ereichte, war es sowohl Postel als auch der US Regierung klar, dass dies die Kapazitäten eines Einzelkämpfers übersteigt. Zunehmend forderte zunächst vor allem die Europäische Kommission eine stärkere Einbeziehung in die Verwaltung des Internet. Das Internet sei keine rein amerikanische Angelegenheit mehr, tönte es aus Brüssel. Immerhin waren es europäische Forschungsgelder, die Tim Barners Lee 1991 im schweizerischen CERN für die Erfindung des „World Wide Web“ nutzte.

Postels Idee war zunächst das ganze Internet Management unter das Dach der 1992 gegründeten Internet Society (ISOC) zu schieben. Später flirtete Postel mit derITU und der WIPO, um sich mehr internationale staatliche Rückendeckung zu verschaffen. Als 1997 in Genf ein „Memorandum of Understanding“ zwischen IANA, ISOC, dem Internet Architecture Board (IAB), ITU, WIPO und der International Trademark Association (INTA) unterschrieben wurde, war die Europäische Kommission nicht ganz unzufrieden. Christopher Wilkinson, ein hoher Beamter aus Brüssel, wurde Mitglied des „Policy Oversight Committee“ (POC) und mit Roberto Gaetano, Willie Black, Amadeu Abril I Abril und Lars Johan Liman waren vier Europäer zusätzlich in dem zehnköpfigen Leitungsgremium.

Die Clinton-Administration, eng umgeben von den Lobbyisten der gerade erwachenden Internet Wirtschaft, fand daran aber wenig Gefallen. In Washington sah man das POC als viel zu nah an Regierungskontrolle und dem traditionellen hierarchischen und zentralistischen Denken der Telekommunikationsindustrie. Als Postel auch noch anfing die Idee einer Verlagerung des „A Root Servers“ von Virginia nach Genf zu ventilieren, platzte der US Regierung der Kragen. Das Internet brauche keine staatliche Aufsicht, argumentierte Clintons Internet Berater Ira Magaziner und bahnte den Weg zur Gründung der privaten ICANN. Die Europäische Kommission opponierte daraufhin geharnischt gegen einen US-amerikanischen Alleingang und erreichte immerhin dass man in Washington ein bisschen einlenkte. Die Europäer bekamen die Zusicherung, dass die „new corporation“ von einem internationalem Direktorat geleitet werden sollte, in dem die Europäer angemessen vertreten sind. Das stellte den damaligen EU-Kommissar Martin Bangemann zufrieden und er gab dem US Handelsminister William Daley grünes Licht für ICANN.

Als das US-Handelsministerium im November 1998 das MoU mit ICANN unterschrieb, musste ITU Generalsekretär Pekka Tarjanne zähneknirschend mit ansehen, wie die USA und die EU auf der gleichzeitig stattfindenden ITU Vollversammlung in Minneapolis eine Resolution durchboxten, die das Prinzip der „private sector leadership“ bei Internet Governance anerkannte. Die meisten Regierungen der ITU Mitgliedsstaaten hatten 1998 andere Sorgen, als sich um das Internet zu kümmern.

Spätstarter wollen mitreden

Sieben Jahre später hat sich die Welt verändert. Jetzt gibt es fast eine Milliarde Internet Nutzer. In Brasilien, Indien, Südafrika, Ägypten boomt das Internet. Allein die Volksrepublik China hat jetzt 100 Millionen Internet Nutzer, d.h. jeder zehnte „netizen“ ist heutzutage ein Chinese. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn die neuen Internet-Nationen ähnliche Fragen aufwerfen, wie sie 1997 die EU gestellt hatte. Man will mitreden bei der Verwaltung des Internet, das für die nationale Politik und Wirtschaft mittlerweile fast jeden Landes Teil der kritischen Infrastruktur geworden ist. Zwar gibt es kein Internet für Nigeria, Saudi-Arabien oder Pakistan und insofern ist eine Eingemeindung des Internet in klassische nationale politische Machtstrukturen schlechthin unmöglich, aber die Regierungen der Entwicklungsländer und vor allem China wollen sich nicht damit abfinden, das die US-dominierte Privatwirtschaft ihnen erzählt, wie sie mit dem Internet umgehen können und sollen.

Natürlich ist es legitim, für nationale Interessen zu streiten. Das gilt auch für das Internet. Das Risiko aber, das sich hier aufbaut, ist, dass eine globale Regierungskontrolle über das Internet nicht zwangsläufig ein praktisch gut funktionierendes System weiter verbessert. Schnell kann das kontraproduktiv werden, ins Gegenteil umschlagen und einer „Balkanisierung des Internet“ den Weg bahnen. Wenn Root Server, IP-Adressen und Domain-Namen zum Gegenstand nationaler Eitelkeiten, Egoismen und Konflikte werden, kann leicht Sand ins Getriebe geraten und das Funktionieren des Gesamtsystems unterminiert werden. Die Leidtragenden wären dabei weniger die Regierungen als vielmehr die Internetnutzer und die Internetwirtschaft. Wiewohl das historisch gewachsene Internet Management System durchaus weiterentwickelt werden und neue Herausforderungen angepasst werde muss, sollte dies so geschehen, dass kein Schaden entsteht für die Betroffenen und Beteiligten.

Europäer als Mittler?

Sind die Europäer in der Lage, zwischen den beiden Extremen zu vermitteln? Eine Prognose zu stellen, ist nicht ganz einfach. Das hängt nicht zuletzt auch damit zusammen, dass die europäischen Regierungen selbst ja erst ziemlich spät das Internet als eine Herausforderung für die Politik entdeckt haben. In den 90er Jahren handelte die Europäische Kommission für die EU, die nationalen Regierungen, einschließlich der Kohl-Regierung in Deutschland, hatte sich darum nicht gekümmert. Später versuchten zunächst einzelne Regierungen individuelle Politiken zu entwickeln, vornehmlich über die Regulierung ihrer Länderdomains.

Im Ergebnis entstanden relativ unterschiedliche, zum Teil sogar gegensätzliche Modelle. Während die Franzosen und Spanier ein relativ rigides System der Domainname-Regjstrierung einführten, gingen die Deutschen und Briten relativ locker damit um und ließen die privaten Organisationen NOMINET und DENIC weitgehend mit regulatorischen Vorschriften in Ruhe. Im Ergebnis konnte man ein starkes Anwachsen von Domain-Registrierungen unter .de (mittlerweile über acht Millionen) und .uk beobachten, während .fr und .es auf ein eher spärliches Wachstum kam.

Die europäische Harmonisierung der nationalen Politiken ließ aber auf sich warten und bei den ganzen Streitereien, wie weit man denn nun regulieren oder nicht regulieren sollte, verpasste man auch noch die Gunst der Stunde zu nutzen und .eu als eine Top-Level-Domain am Markt zu einem Zeitpunkt zu platzieren, als der Internet Boom gerade einsetzte. Eine Mehrheit der EU-Mitglieder war aber damals der Auffassung, dass man für eine .eu TLD mehr als einen Handshake von Jon Postel benötigt.

Die Regulatoren, die eine EU-Direktive forderten, setzten sich durch und im Ergebnis gab es den üblichen Brüsseler Prozess: Endlose Sitzungen, Entwürfe, Kommentare, neue Entwürfe, Ausschreibungen, Vertragsverhandlungen etc. Hätte man .eu 1998 etabliert, gäbe es heute vielleicht einen europäischen Konkurrenten zu .com. So aber warten europäische Bürger und Institutionen im Jahr 2005 noch immer auf eine Möglichkeit, sich im Cyberspace als Europäer zu identifizieren. Im Januar 2006, oder sogar noch früher, soll es nun aber losgehen. EURID, die neue Registrierungsbehörde für .eu, ist ein privates Konsortium, hat aber einen Vertrag mit der Europäischen Kommission, einer Regierungsbehörde.

Auf dem Weg zu einer Public-Private-Partnership?

Auch wenn dieser Diskussionsprozess an sich nicht gerade als attraktiver Exportartikel geeignet ist, spiegelt die europäische Debatte in gewissem Grade die globalen Konstellationen im Spannungsfeld zwischen Regulierung und Deregulierung. Insofern kann die EU tatsächlich reklamieren, dass sie beide Seiten gut versteht. Ob sich jedoch das Modell der Public-Private-Partnership auch auf globaler Ebene als der Königsweg erweist, ist keineswegs klar.

Zunächst erst einmal hat die luxemburgische Präsidentschaft die Europäer wieder stärker in den globalen Diskussionsprozess hineingebracht. Unter ihrer Leitung fuhr eine Abordnung der „High Level Group“ Anfang Mai zu Konsultationen nach Washington, Ende Mai gab es einen ausführlichen Erfahrungsaustausch mit den europäischen ccTLDs, denen man den Rücken für ein selbstbewusstes Auftreten gegenüber ICANN stärkte. Die meisten europäischen ccTLDs sind bislang nicht Mitglied der CNSO, der ICANN-Unterorganisation für Länderegistries. Bei dem Brüsseler Treffen mit den ccTLDs wurde insbesondere das britische Modell – Großbritannien übernimmt im Juli die EU-Ratspräsidentschaft – eines sehr flexiblen Verhältnisses zwischen Regierung und der privaten NOMINET gewürdigt: Ein informelle Partnerschaft ohne lästigen Regelungsballast mit wahrgenommener Eigenverantwortung beider Partner zum Vorteil aller Seiten. Mehr noch, die High Level Group hat sogar die Zivilgesellschaft zu Konsultationen eingeladen und nach drei Stunden Diskussion versprochen, die Bedenken der europäischen Internet Nutzer ernst zu nehmen. Nicht überall in Brüssel hat man ein so offenes Ohr für die einfachen Bürger.

Eisberg USA?

Die eigentliche Test aber steht noch bevor. Ob die US-Regierung auch diesmal den Europäern wie 1998 entgegenkommt und eine gewisse Flexibilität erkennen lässt, bleibt abzuwarten (Wie amerikanisch bleibt ICANN?). Als die Spitze der „High Level Group“ jüngst in Washington war, wurde sie von David Gross, dem Koordinator für internationale Informations- und Kommunikationspolitik im State Department zwar freundlich empfangen, in der Sache aber bewegte sich nichts. Verwundert fragte Gross, was denn am gegenwärtigen Internetsystem nicht funktioniere? Wozu etwas ändern, wenn Emails problemlos ihrer Adressaten finden und endlos Websites ins Netz gestellt werden können? Würde das mit einer Internet-UN problemloser und endloser gehen?

Bei einem WSIS-Briefing für den amerikanischen privaten Sektor und die US- Zivilgesellschaft machte Gross keinen Hehl daraus, dass er nicht viel davon halte, am Internet herumzudoktern oder es gar in Verbindung mit der UNO zu bringen. Er sagte aber auch nicht, wie die Oberaufsicht über den Internet-Root, der bislang von der US-Regierung in alleiniger Verantwortung wahrgenommen wird, nach Auslaufen des MoU mit ICANN im Oktober 2006 aussehen soll. Immerhin lud Gross die US-amerikanische Wirtschaft und Zivilgesellschaft ein, Vorschläge zu machen, was man denn verbessern könne.

Aus der Sicht der Nutzer sieht die Sache noch anders aus. Nutzer haben in der Tat wenig Probleme mit dem „Wie“ der Verwaltung der Internet-Kernressourcen, das ist mehr das Problem der Politiker. Wichtig für den Netzbürger ist, dass diese Ressourcen leicht verfügbar und vor Missbrauch oder künstlicher Verknappung geschützt sind.

Die Probleme kommen mit dem Gebrauch dieser Ressourcen und den einhergehenden Missbräuchen durch Spammer, Kriminelle, Pädophile, Vandalen, Hassprediger usw. Dort aber, wo Regierungen gebraucht werden, haben die noch keinen Weg gefunden. Die bloße Verlängerung des nationalstaalichen Souveränitätsprinzip in den Cyberspace – wie es beim Schutz von geistigen Eigentum oder bei der Verfolgung von Terroristen gegenwärtig versucht wird – funktioniert nicht und läuft ins Leere, weil des Internet nun mal keine räumlichen Grenzen kennt. Wenn das grenzenlose Internet damit also eine gemeinschaftliche globale Ressource ist, dann muss auch die Verantwortung dafür geteilt werden. Und das hat zur Konsequenz dass alle Stakeholder – Regierungen, Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft - nicht nur in einem Boot sitzen sondern auch zu einem neuen Verständnis von globalen Gemeinschaftssinn, virtueller Nachbarschaft und geteilter Souveränität gelangen muss, ein Prinzip das das gegenwärtige Völkerrecht noch nicht kennt.

Ob jedoch Washington oder Peking zu diesem Sprung über den eigenen Schatten jetzt schon bereit sind und ob es Brüssel gelingt, das Terrain irgendwo in der Mitte zu stabilisieren, ist eine gute Frage, deren Antwort wohl noch etwas auf sich warten lassen wird. Zunächst geht es weiter in kleinen Schritten: Im Juli präsentiert die WGIG ihren Schlussbericht. Im September 2005 wird der Bericht auf der PrepCom3 in Genf zwei Wochen lang verhandelt. Im November 2005 werden die Staats- und Regierungschefs in Tunis bei WSIS II sich mit einer wahrscheinlich bis zum letzten Moment kontroversen Resolution herumschlagen und einen neuen vorläufigen Kompromiss finden, um die zehn Monate zu überbrücken, bis das MoU zwischen der US Regierung und ICANN im Oktober 2006 ausläuft. Ob bei diesen vielen Wegen auch ein „Dritter“ dabei ist, wird sich zeigen.