Ohne Alternative?

Hitzige Debatten um den zukünftigen Charakter Europas sind keineswegs neu und einige ihrer Aspekte tauchen bereits in der europäischen Ideengeschichte auf

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Nimmt man das 18.Jahrhundert zum Ausgangspunkt, war die Europaidee zum einen Produkt des aufgeklärten Denkens. Der französische Dichter Victor Hugo etwa orientierte sich an den Werten der französischen Revolution und wollte Kriege und nationalistische Engstirnigkeit in Europa überwinden. „Ein Tag wird kommen, wo Kugeln und Granaten von dem Stimmrecht ersetzt werden, von der allgemeinen Abstimmung der Völker, von dem ehrwürdigen Schiedsgericht eines großen, souveränen Staates“, sprach er 1849 vor den Delegierten des 2. internationalen Friedenskongresses in Paris. Und selbst Europa war in seinen Augen nur eine Etappe. „In den folgenden Jahrhunderten wird sie sich nochmals verwandeln und wird ‚Die Menscheit' genannt werden“, schloss Hugo seinen Vortrag. Die Kriege der vergangenen Jahrhunderte hatten immer wieder den Wunsch nach einem geeinten Europa geweckt, z.B. auch bei Immanuel Kant. Aber er und Victor Hugo blieben vereinzelte Rufer in der Wüste.

Auch das Kommunistische Manifest beginnt mit dem Satz: "Ein Gespenst geht um in Europa". Für Marx und Engels drückte Europa jedoch vor allem eine weltweite Sonderstellung hinsichtlich der Produktionsverhältnisse und ihrer Entwicklung aus – nicht unbedingt eine politische Entität. Marx bezeichnete den "Westen von Europa" als das "Heimatland der politischen Ökonomie" und warnte davor, seine Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa in eine "geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges zu verwandeln, der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist."

Wirkungsmächtiger war die imperialistische, reaktionäre und blutrünstige Seite der europäischen Geschichte. Damit sind nicht nur die Kriege der europäischen Potentaten und staatlichen Gebilde gegeneinander gemeint. Gemeint ist in erster Linie, dass sich europäisches Denken und Handeln in den verschiedenen Staaten immer auch durch die Konstruktion vermeintlicher Feinde definierte. Das christliche Abendland suchte und fand seine innere Festigung in der Verfolgung von Andersdenkenden, von Juden, von Muslimen und später von Kommunisten. Und auch die Kolonialisierung Afrikas, Asiens und Amerikas wurde abgesichert und gerechtfertigt mit der Überhöhung der eigenen Kultur zur „Hochkultur“ – weit überlegen den sogenannten Barbaren, Heiden oder Primitiven.

"Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa"

Eine Zäsur stellte der Erste Weltkrieg dar. Entsetzt von der Vernichtungskraft der modernen Kriegsführung in Europa, begeisterten sich gegen Ende des Krieges mehr und mehr Menschen für die europäische Idee – mit durchaus unterschiedlichen Vorzeichen.

Während die Sozialdemokratie mehrheitlich in vaterländischen Taumel gerät, zunächst auseinander bricht und sich der größere Block kurz gegen Ende des Weltkriegs in Deutschland mit der Obersten Heeresleitung um Hindenburg verbindet, treffen sich bereits im September 1915 oppositionelle Sozialisten im Schweizer Dorf Zimmerwald: Lenin, Trotzki, Radek, Sozialistinnen und Sozialisten aus Polen, Bulgarien, der Schweiz, den Niederlanden, Italien, Frankreich, Schweden und Norwegen. Auch Rosa Luxemburg schloss sich der "Zimmerwalder Linken" an, dem Vorläufer der Kommunistischen Internationale. Sie sah Europa als Ausgangspunkt für die "menschenbefreiende soziale Revolution".

Im Manifest der sozialistischen Konferenz von Zimmerwald appellierten die Teilnehmer an die "Proletarier Europas", sich für einen Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen einzusetzen. Mit der russischen Revolution und der erwarteten Revolution in Deutschland wuchs schließlich die Hoffnung auf die "Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa" – als Ausgangspunkt für den weiteren Fortschritt der Weltrevolution, als Gegenmodell zu einem europäischen Imperialismus und später auch als Gegenmacht gegen die führende kapitalistische Weltmacht, die USA.

Doch spätestens Anfang der 20er Jahre, nach der gescheiterten Revolution in Deutschland und der Machtübernahme Stalins in der Sowjetunion war die Hoffnung auf die "Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa" in weite Ferne gerückt: Die Politik der revolutionären Arbeiterparteien in Europa ordnete Stalin mit Hilfe der Komintern weitgehend den Bedürfnissen der sowjetischen Außenpolitik unter und verfolgte sein Konzept vom "Aufbau des Sozialismus in einem Lande".

Bürgerliche Politiker verstanden Europa in der Zeit zwischen den Weltkriegen vor allem als Bollwerk gegen die Sowjetunion. Den größten Einfluss erreichte die Paneuropa-Bewegung des österreichischen Adeligen Richard Nikolaus Graf von Coudenhove-Kalergi, der den imperialistischen Traditionen Europas verpflichtet war und später einen konservativen Antifaschismus verfocht. Seine Paneuropa-Bewegung zog auch Regierungschefs in ihren Bann: den Tschechen Thomas Masaryk, den Österreicher Engelbert Dollfuß und den Franzosen Aristide Briand. Das Ziel der Paneuropa-Bewegung bestand in der Einrichtung eines gemeinsamen Zollvereins, eines Bundesgerichtshofes, der Einführung einer einheitlichen Währung und im Abschluss eines Militärbündnisses.

Mit der Eroberung Europas durch das nationalsozialistische Deutschland verlor die Paneuropa-Bewegung an Bedeutung. Die Nationalsozialisten hatten eine ihrem Großmachtstreben angepasste Konzeption von Europa, die stark an den Interessen der deutschen Großindustrie ausgerichtet war.

Bewegung für ein föderalistisches Europa

Der Zweite Weltkrieg brachte erneut einen Schub für die europäische Idee, der sich unter anderem in der raschen Verbreitung des Manifests von Ventotene ausdrückte. Seine Anhänger sahen ein föderalistisches Europa als unabdingbare Voraussetzung und historische Möglichkeit, dem Nationalismus in Europa und damit den kriegerischen Auseinandersetzungen den Boden zu entziehen. Sie plädierten damals für eine „sozialistische Revolution“ in Europa, die „sich die Emanzipation der werktätigen Klassen und die Verwirklichung menschlicher Lebensbedingungen“ zum Ziel setze, frei „vom Alpdruck des Militarismus und des nationalen Bürokratismus.“

Ein Architekt der Bewegung für ein föderalistisches Europa war der Italiener Altiero Spinelli. Als Kommunist kämpfte er in den 20er Jahren gegen den Faschismus und geriet bald in Gefangenschaft. 1937, nach mehr als zehn Jahren Haft, wird er schließlich auf die Gefängnisinsel Ventotene verlegt. Dort bricht er mit dem Stalinismus und entwirft im Juli 1941 gemeinsam mit dem Wirtschaftswissenschaftler Ernesto Rossi und dem Physiker und Sozialisten Eugenio Colorni das Manifest von Ventotene. Von Rossis Frau aufs Festland geschmuggelt, gelangt es nach Rom und ins europäische Ausland, wo es weit über die Kreise sozialistischer Widerstandsgruppen hinaus großen Anklang findet:

Die erste anzugehende Aufgabe, ohne deren Lösung jeglicher Fortschritt eine trügerische Hoffnung bleiben würde, ist die endgültige Beseitigung der Grenzen, die Europa in souveräne Staaten aufteilen. Die Tatsache, dass ein großer Teil der europäischen Staaten von der deutschen Walze erfasst worden ist, hat ihre Geschicke zu einem verschmolzen. Entweder geraten die Staaten alle unter das Hitlerregime, oder aber, falls dieses zerfällt, in eine revolutionäre Krise, die ein Erstarren und eine Aufteilung in feste staatliche Strukturen nicht zulässt.

Aus dem Manifest von Ventotene

Gemeinsam mit seinen Gefährten ging Spinelli bei seiner Analyse des Nationalstaates grundsätzlich andere Wege als Graf von Coudenhove-Kalergi. „Die Ideologie der nationalen Unabhängigkeit“ sei zwar „ein mächtiger Gärstoff für den Fortschritt gewesen“, heißt es im Manifest von Ventotene, „trug jedoch in sich die Keime des kapitalistischen Imperialismus, den unsere Generation bis zur Bildung der totalitären Staaten und zur Entfesselung der Weltkriege ins Riesenhafte sich vergrößern sah“.

Mit ihrem Manifest legten die Autoren die Keime für die Föderalistische Bewegung Europas als „Grundstein für das noch ferne Ziel der Weltföderation freier Völker“. Der Weg zu diesem Europa sollte nicht zwischen den herrschenden Eliten im damaligen Europa ausgehandelt werden, sondern möglichst viele Bewohner Europas beteiligen. Als „Krönung“ ihrer Träume bezeichneten die Föderalisten „eine verfassungsgebende Versammlung, gewählt aufgrund des soweit wie möglich gefassten Stimmrechts und unter gewissenhafter Wahrung des Rechts der Wähler, sich eine bestimmte Verfassung zu geben. [..] Die Vereinigten Staaten Europas können nur auf der republikanischen Verfassung all ihrer Bundesstaaten beruhen.“

Das Bekenntnis zu einem förderalistischen, demokratischen und sozialistischen Europa zog sich durch viele Erklärungen des Widerstandes und fand sich auch im Buchenwalder Manifest, dass am 13.April 1945 mehr als fünfzig Häftlinge unterzeichneten, die das KZ Buchenwald überlebt hatten.

Der Kalte Krieg fordert seinen Tribut

Mehr als fünf Jahre später im August 1950: Im elsässischen Weissenburg demonstrieren Hunderte von Studenten aus Italien, England, Frankreich, der Schweiz, den Benelux-Staaten und Deutschland für ein gemeinsames Europa. Am Tag zuvor haben einige von ihnen Grenzpfähle an der deutsch-französischen Grenze in der Südpfalz zerstört. Es war ein letztes, verzweifeltes Aufbäumen für ein föderalistisches Europa, ganz im Geiste des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus.

1950 war allerdings die Begeisterung und der Idealismus der sogenannten Föderalisten bereits mehrheitlich der Ernüchterung gewichen. Der Kalte Krieg forderte seinen Tribut, die Hoffnung der Föderalisten auf ein Europa jenseits der Blockkonfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion war zerstoben. Die Restauration des Kapitalismus und seiner Nationalstaaten im Westen – in Deutschland mit Hilfe der alten nationalsozialistischen Eliten, war bereits im vollen Gange. Auch Stalin sah wenig Gemeinsamkeiten zwischen den Föderalisten und seiner Politik vom "Aufbau des Sozialismus in einem Lande", die in der Nachkriegszeit auf die Vasallenstaaten ausgeweitet wurde.

"Der Kampf hat aufgehört, aber nicht die Gefahren", sagte Winston Churchill in seiner vielbeachteten Züricher Rede im September 1946. Mit dieser Rede wies er Europa bereits einen Frontplatz im Kalten Krieg zu. Er wollte, so hatte er bereits zwei Jahre zuvor verkündet, "an der Wiederbelebung des furchtbringenden Geistes und der Wiederherstellung der wahrhaften Größe Europas" mitarbeiten.

Die damaligen Führungsfiguren der Föderalisten, unter ihnen Henri Frenay, Chef der französischen Widerstandsbewegung „Combat“, der deutsche Buchenwald-Überlebende und Linkskatholik Eugen Kogon und Altiero Spinelli, der später als Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens Abgeordneter des Europäischen Parlaments wurde, waren zunächst nicht mit Churchills Politik einverstanden. Sie setzten auf ein von den beiden Blöcken unabhängiges Europa. Spinelli kritisierte Churchills Europapolitik als tödliche Umarmung:

Churchill hatte eine gleichermaßen schlaue wie auch zynische Idee: die Briten würden die Rolle der Schutzherren der europäischen Bewegung übernehmen, um diese dann so zu führen, dass eine wirkliche Union mit Sicherheit niemals erreicht werden würde.

Es sei keine Rede gewesen von "Föderation, Abgabe von Souveränitätsrechten, supranationalen Institutionen, aber statt dessen gab es eine Fülle von Plattitüden und allgemeinen Floskeln über das Erbe einer gemeinsamen Zivilisation, Solidarität gegen den Kommunismus".

Die Träume und Hoffnungen der Föderalisten wurden spätestens mit der Unterzeichnung des Marshallplanes im Dezember 1949 durch John McCloy, den Hohen Kommissar der Vereinigten Staaten und den damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer zunichte gemacht. In seiner Rede sprach Adenauer von der Notwendigkeit eines freien Marktes und einer Einheitswährung und berief sich dabei auf die "traditionellen Werte der europäischen Kultur", die nur "erhalten werden können, wenn Europa wirtschaftlich und kulturell gesundet und in friedlicher Zusammenarbeit vereint den destruktiven Kräften, welche von außen her auf Westeuropa einwirken, als festes Bollwerk entgegentreten kann." Damit war Westeuropa an die Seite der USA gekettet und der Weg zum heutigen Europa mit seiner militaristischen und neoliberalen Verfassung eingeschlagen.

Später, mit der Montanunion und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, ergaben sich auch die meisten Föderalisten den vermeintlichen politischen Sachzwängen. Der Sozialismus wurde als erstes ad acta gelegt und die Europäische Union zum Selbstzweck erklärt. Die heutige Union der Europäischen Föderalisten, die sich nach wie vor auf ihr antifaschistisches Erbe berufen, rührt fleißig die Werbetrommel für die EU-Verfassung. Von ihrem Erbe und dem Manifest von Ventotene hat sie sich weit entfernt. Es scheint regelrecht vergessen. Dabei wäre es an der Zeit, sich dieses Erbe wieder bewusst zu machen und eine Alternative zur politischen Verfasstheit der heutigen Europäischen Union zu entwerfen.

Literatur