Das Europa der Bürger

Anstatt auf die kritischen Stimmen einzugehen, wurde auf dem EU-Gipfel eine "Periode des Nachdenkens" verordnet

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"Es ist ein großer Fehler gewesen, den vollständigen Verfassungstext an alle französischen Haushalte zu schicken", warf Giscard d'Estaing Mitte Juni dem französischen Präsidenten Jaques Chirac vor. Im März habe er ihn davor gewarnt, denn es "ist nicht möglich, dass alle den ganzen Text verstehen". Dabei hat der schlaue Giscard d'Estaing in seiner Funktion als Vorsitzender des Verfassungskonvents am Text mitgewirkt, bezeichnet ihn sogar wortwörtlich als mein Dokument So viel Eitelkeit und Überheblichkeit lässt nicht mehr viel Platz für Demokratie. Auch nicht in Brüssel, wo sich gestern und heute die Regierungschefs der EU getroffen haben, um ihre Krise zu bewältigen.

José Manuel Barroso und Jean-Claude Juncker. Bild: Tom Wagner/eu2005.lu

Das "Europa der Bürger" hat sich wieder in Brüssel getroffen: Verbarrikadiert hinter Spanischen Reitern, Nato-Draht und Wasserwerfern. Und wieder einmal hat sich dieses so gern zitierte "Europa der Bürger" als ein Europa der Eliten erwiesen, völlig unfähig, auch nur ansatzweise auf die kritischen Stimmen der Nein-Sager einzugehen, die ein soziales und demokratisches Europa fordern. Statt dessen haben sie nun, nach den deutlichen Voten zur EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden, eine "Periode des Nachdenkens" eingeleitet.

Ist mit dieser politischen Prosa etwa gemeint, es hätte vor den Referenden kein "Nachdenken" gegeben? Sind die Eliten kopflos ins Desaster gestürzt? Aber nein, sie meinen nicht sich selbst. An der Verfassung, daran haben die Regierungschefs in Brüssel keinen Zweifel gelassen, soll nichts geändert werden. Gemeint sind die Wähler in Frankreich und den Niederlanden, die dieser Verfassung eine klare Absage erteilt haben, und diejenigen aus anderen europäischen Ländern, die deren Haltung teilen. Sie sollen nachdenken. Oder auch: Über sie soll nachgedacht werden. Was man durchaus auch als Drohung verstehen darf.

Der Ratifizierungsprozess für die EU-Verfassung, so die Beschlusslage der EU-Regierungschefs, wird um ein Jahr verlängert und soll erst 2007 abgeschlossen werden. Die Ratifizierung soll in den Ländern ungebrochen weitergehen, in denen die Parlamente abstimmen. Dort, wo ein Referendum vorgesehen ist, sollen die Nationalstaaten entscheiden, ob sie dieses aussetzen wollen. In wichtigen Ländern, in denen ein Referendum vorgesehen war, sind sie schon abgesagt, z.B. in Großbritannien und Dänemark. In Luxemburg wird das Parlament dieser Tage über ein Referendum entscheiden, und auch in Portugal, Irland und Tschechien gibt es Pläne, die Volksbefragung auf Eis zu legen. Nur Polen will daran festhalten, dort haben die Ja-Sager nach jüngsten Umfragen immer noch eine kleine Mehrheit. Und in Finnland und Schweden ist die Ratifizierung sogar in den Parlamenten ausgesetzt, weil viele der gewählten Abgeordneten seit jeher zum Euroskeptizismus neigen und nun wieder Aufwind verspüren.

Die Taktik ist so einfach wie durchschaubar: Da das schwache spanische Ja – immerhin gab es dort nur 42 Prozent Wahlbeteiligung – gegenüber den deutlichen Nein mit hoher Wahlbeteiligung in Frankreich und den Niederlanden verblasst und damit auch schon vor dem Referendum in Frankreich kein Werbefeldzug zu machen war, sollen die Nein-Sager zu einem historischen Ausrutscher reduziert werden. Der Luxemburgische Mr. Europa, Jean Claude Junker, hat gestern in väterlicher Manier Franzosen und Niederländern erklärt, was sie falsch gemacht haben:

Ich bin wirklich davon überzeugt, dass weder Franzosen noch Niederländer die Verfassung abgelehnt haben. Leider haben die Wähler nicht realisiert, dass der Verfassungsvertrag ganz besonders ihren Bedenken entgegen kam, deshalb brauchen wir die Periode des Nachdenkens, um es unseren Bürgern zu erklären.

Jean Claude Junker

Die Franzosen dürfen dann voraussichtlich nach den Präsidentschaftswahlen 2007 erneut über die Verfassung abstimmen. Die Verfassungsgegner, die gestern Abend in Brüssel und auf dem Platz der Republik in Paris demonstrierten, wollen hingegen, dass dieser Verfassungsvertrag beerdigt wird, damit die Diskussion über eine neue Verfassung eröffnet werden kann. Entscheidungen über die Verfasstheit Europas soll dann nicht mehr ein Konvent der Eliten treffen, sondern eine Verfassungsgebende Versammlung, deren Vertreter direkt gewählt sind.