"Ich bin der Sohn des Nichts"

Nörgeln, Pessimismus und Zorn: die junge französische Elite, befragt von einer Marketing-Agentur

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Wo ist sie nur hin, die heitere Leichtigkeit in Frankreich? Bloß mehr ein Werbeattribut, das zusammen mit der "Liberté toujours" dazu verdammt ist, an Werbeflächen gekleistert zu werden und mit der Realität im Lande kaum mehr etwas zu tun hat? Wer spricht noch vom "savoir vivre", von der französischen Lebenskunst? Ein paar (ältere) frankophile Deutsche vielleicht, die junge französische Generation nicht mehr. Die Ergebnisse einer Studie, die vor kurzem veröffentlicht wurde, bestätigen jedenfalls, was der hervorragendste unter den "jungen" Autoren Frankreichs, Michel Houellebecq, schon seit längerem behauptet: Frankreich ist ein düsteres Land.

Früher hieß es noch, dass Gott, sollte er noch einmal Lust auf die Erde haben, ganz sicher in Frankreich leben würde und jetzt:

Ich bin der Sohn des Nichts. Voilá, da sind wir jetzt.

Die künftige Welt wird nicht bei uns stattfinden, weil wir nichts riskieren.

Die Rechte hat die Kultur verraten und die Linke den Fortschritt. Ab jetzt macht sich eine Monokultur geltend. Man hat also einen zweifachen Konservatismus mit depressiver Tendenz. Getragen wird er zum einen von denen, die sagten "Unter den Pflastersteinen der Strand" (Spruch der 68er, Anm.d.A.) und zum andern von denen, die sich ihnen widersetzten.

Nörgeln, französisch: râler, gilt eigentlich als ur-deutsche Eigenschaft, es scheint, als ob es sich hier doch eher um eine alteuropäische Neigung handelt; pessimistische Zitate mit nörgelnden Unterton, wie die eben genannten, finden sich nämlich in größerer Anzahl in einem Artikel der französischen Tageszeitung Le Monde, die sie ihrerseits einer Untersuchung des Marketing-Unternehmens Euro-RSCG entnommen hat.

Befragt wurde eine Hundertschaft von Franzosen im Alter zwischen 30 und 45, angewandte Methode: qualitative Interviews. Das Besondere: die Interviewten gehören zur jungen Elite der französischen Gesellschaft, zu den so genannten "Cadres", den Führungskräften. Die vertrauliche Studie sei eigentlich nur Kunden zugänglich, aber Le Monde veröffentlichte vor einigen Tagen Auszüge und eine Zusammenfassung.

Die französische Gesellschaft in Teile zerbrochen

Demnach sehen die, welche bald die Zügel der französischen Gesellschaft in den Händen halten werden, das Land in einem desolaten Zustand. Die Gesellschaft sei in ihren Augen in Stücke zerfallen, so resümieren die Leiter der Studie die Ergebnisse. Der Zusammenhalt, das große Ganze sei gefährdet. Das republikanische, laizistische Modell würde mehr und mehr in ein anderes System übergehen, das von einem Nebeneinander aus verschiedenen Communautés (geschlossenen Gemeinschaften - das deutsche Stichwort hierzu wäre "Parallel-Gesellschaften") geprägt sei, fürchten die Nachwuchsführungskräfte (vgl. Allgemeine Abschottung). Der Glaube an den Universalismus sei perdu.

Für die Krise des Fortschritts, die dem allgemeinen Misstrauen, das allenthalben zu beobachten sei, zugrunde läge, machen die jeunes cadres vor allem die Linken verantwortlich. Namentlich die PS, die Parti Socialiste, habe sich zum Konservatismus gewandelt, einer Ideologie der Bewahrung gehuldigt und den Fortschritt aus ihren Debatten ausgeschlossen. (Im Gegensatz zu den Lesern der Le Monde wird die PS wohl bald konkreteres über diesen Anklagepunkt erfahren, denn einer der Mitdirektoren von Euro-RSCG, der die Untersuchung in Auftrag gegeben hat, ist Berater der sozialistischen Partei.)

Doch nicht nur die Linken und Altachtundsechziger werden von der Generation der 30 bis 45Jährigen stark kritisiert, auch für die ältere Elite, die seit "30 Jahren an der Macht sitzen", hält man mitleidlose, harte Kritik bereit: Sie werden als "medioker, zynisch und verlogen" abgeurteilt, verantwortlich für die Blockierung des Landes. Während man diesen Eliten vorwirft, dass sie an ihren Stühlen kleben und ihre Werte nicht mehr zu gebrauchen sind - "Die Idee des Aufstiegs ist entwertet!"-, wird die Generation der 68er für ihre Passivität und mangelnde Voraussicht kritisiert.

Die Generation der 68er war eine Konsumentin der Seelen. Sie haben sich alles genommen, was es auf dem Markt gegeben hat. Und sie haben der nachfolgenden Generation nichts hinterlassen.

Die von 1968 haben in einer gesegneten Epoche gelebt. Man konnte damals an den Fortschritt glauben. Wir sind mit der Krise geboren und kennen nichts anderes. AIDS hat für mich immer existiert. Ich weiß nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll, wenn sie mir von ihrer ungehemmten Sexualität erzählen. Sie haben auf einem anderen Planeten gelebt und halten uns jetzt noch dazu für kleine konservative Blödmänner.