Die Spannung steigt

Wenige Wochen vor dem Beginn der Siedlungsräumungen in den palästinensischen Gebieten weiten Extremisten und Politiker auf beiden Seiten ihre Aktivitäten aus

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Im Gazastreifen werden Siedler, israelische Armee und die Städte und Gemeinden in der Nachbarschaft seit einigen Wochen wieder öfter von palästinensischen Extremistengruppen unter Beschuss genommen. In Israel werden derweil die Aktionen der Räumungsgegner immer militanter: In den kommenden Tagen wollen sie Straßen und Regierungsgebäude blockieren. Die Polizei hat deshalb für das gesamte Land Sicherheitsstufe Eins verhängt. Israels Ministerpräsident Ariel Scharon befürchtet, dass die anhaltende Gewalt in Gaza die öffentliche Meinung ins Wanken bringen könnte, und hat sich deshalb am Dienstag zum ersten Mal seit Februar mit dem palästinensischen Präsidenten Machmud Abbas getroffen.

In Sderot, in der Nachbarschaft des Gazastreifens, waren wieder einmal mehrere Kassam-Raketen eingeschlagen, als am Dienstag Nachmittag die Wagenkolonne des palästinensischen Präsidenten Machmud Abbas in der festungsartigen Residenz des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon eintraf. Mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht war Scharon in den Hof geeilt, um seinen Gast aus Ramallah in Empfang zu nehmen.

Doch die nette Begrüßung trog: Dieses Treffen, das erste der Beiden seit dem Gipfeltreffen im ägyptischen Scharm al-Scheich (Israelis und Palästinenser erklären Waffenstillstand) Anfang Februar, war kein Freundschaftsbesuch – es gab viel zu besprechen und wenig Einigkeit. Abbas hoffte, Scharon zu neuen „vertrauensbildenden Maßnahmen“ überreden zu können, also Zugeständnisse ohne Vorbedingungen: zum Beispiel die Aufgabe von Kontrollpunkten in den palästinensischen Gebieten oder die Freilassung weiterer Häftlinge. Israels Regierungschef hingegen gab sich hart: Die palästinensische Führung soll erst gegen die Extremistengruppen vorgehen, die in den vergangenen Wochen wieder aktiver geworden sind; erst danach könne die palästinensische Führung mit Zugeständnissen rechnen, die dann aber ausgesprochen umfangreich wären.

„Eine Hauptkonzession wäre die Übertragung der vollen Kontrolle über die Land- und Seegrenzen zum Gazastreifen an die Palästinenser,“ sagt ein Mitarbeiter im Büro des Premierministers. Außerdem habe Scharon die Wiedereröffnung des seit 2001 geschlossenen internationalen Flughafens in Gaza und den Bau eines Seehafens in Aussicht gestellt. „Tabu sind allerdings alle Schritte, die sich direkt auf die Sicherheit Israels auswirken könnten“, so der Kontakt, der nicht namentlich genannt werden will. So behalte sich Israel vor, „jederzeit“ Truppen nach Tul Karem im Westjordanland zu entsenden, das seit April unter palästinensischer Sicherheitskontrolle steht und im Laufe der vergangenen Monate zu einer Bastion der Hamas geworden ist. Außerdem sei der Abbau von Checkpoints im Westjordanland derzeit „kein Thema“ – mit Ausnahmen allerdings: „Wir sind uns bewusst, dass die Straßensperren eine massive Einschränkung des täglichen Lebens der palästinensischen Zivilbevölkerung mit sich bringen“, so der Scharon-Mitarbeiter: „Wir sind deshalb dabei, alle Kontrollpunkte auf ihre sicherheitspolitische Notwendigkeit zu überprüfen.“ Erst am Montag hatte das Verteidigungsministerium die Aufgabe von vier unbewachten Straßensperren angekündigt, bei denen es sich in der Regel um Erdhügel oder Felsblöcke auf der Straße handelt.

Die palästinensische Seite hingegen kritisierte am Rande des Treffens „völlig unrealistische Forderungen“ der israelischen Regierung: „Es ist schwer, es Scharon recht zu machen“, erklärt ein Sprecher des Informationsministeriums und verweist auf eine kleinere diplomatische Krise, die durch die Hinrichtung der ersten vier von insgesamt 50 zum Tode verurteilten Palästinensern Anfang vergangener Woche hervorgerufen wurde. Während Palästinenserpräsident Machmud Abbas betonte, bei den Exekutierten habe es sich um Mörder und Vergewaltiger gehandelt, kritisierte Israels Regierung umgehend "zweierlei Maßstäbe“ der palästinensischen Führung: „Terroristen, die Anschläge gegen Israel verübt haben, kommen mit lächerlich geringen Strafen davon, während unsere eigenen Leute hingerichtet werden“, erklärte Ra’anan Gissin, Sprecher von Regierungschef Ariel Scharon.

Die konservative englischsprachige Jerusalem Post und das Massenblatt Jedioth Ahronoth warfen Abbas zudem vor, er habe den Forderungen von Hamas und Islamischem Dschihad nach einer harten Hand nachgegeben – eine Kritik, die der Sprecher des Informationsministeriums nicht stehen lassen will: „Entweder wir sorgen für Sicherheit und Ordnung oder nicht – es ist ohnehin schon schwer genug, weil unserer Polizei immer noch nicht genug Waffen zur Verfügung stehen.“

Nach Ansicht des Analysten Ilan Marciano von der Zeitung Jedioth Ahronoth zeigt die Menge der angebotenen Zugeständnisse, dass Scharon vor dem Beginn der Gazaräumung in 54 Tagen unter starkem Druck steht, für Ruhe und Ordnung im Umfeld des Gazastreifens zu sorgen: „Wenn es in Gaza weiterhin so unruhig bleibt wie in den vergangenen Wochen, könnte dies in der Öffentlichkeit Unterstützung kosten. Er hat mittlerweile realisiert, dass die Kooperation der Palästinenser nicht für Minimalzugeständnisse zu haben ist.“

Doch trotz aller Unnachgiebigkeit stand ein Ergebnis schon vor Beginn des Treffens fest: Beide Seiten hatten sich schon am Wochenende formell darauf geeinigt, dass Israel die geräumten Siedlungen abreißen wird. Dies war zwar vom israelischen Kabinett schon im November beschlossen, von der palästinensischen Führung gefordert, aber von der US-Regierung kritisiert worden: Dort befürchtete man, Abrissbilder in den Medien könnten schlecht auf die amerikanische Öffentlichkeit wirken. Erst ein Besuch von Außenministerin Condoleeza Rice in der Region am Wochenende brachte den Sinneswandel: Sie habe in ihren Gesprächen mit beiden Seiten festgestellt, dass beide Seiten für den Abriss seien, sagte sie bei einer Pressekonferenz. Und stellte nun sogar zusätzliche Gelder in Aussicht.

Die israelische Regierung bereitet sich auf einen heißen Sommer vor

Doch an der momentanen Lage ändert auch diese Übereinkunft wenig: Die Lage ist gespannt, und verantwortlich dafür sind vor die Gegner der Räumung von 21 Siedlungen im Gazastreifen und von vier Ortschaften im nördlichen Westjordanland: Rund 15.000 von ihnen waren Anfang des Monats anlässlich des Jerusalem-Tags, an dem Israel den Jahrestag der Eroberung Ostjerusalems im Sechs Tage-Krieg 1967 begeht, in die überwiegend arabische Jerusalemer Altstadt gezogen. Die palästinensischen Extremistengruppen hatten diese alljährliche Provokation, die diesmal viel umfangreicher als sonst ausfiel, zum Anlass genommen, um wieder öfter Siedler und Militär im Gazastreifen und die Städte und Gemeinden in der Nachbarschaft unter Beschuss zu nehmen. „Es war kein gelungener Schachzug, den Umzug in die Altstadt in diesem Jahr in diesem Umfang zu erlauben“, sagt Analyst Marciano.

So können sich die Räumungsgegner nun auf die Eskalation berufen und auf ein Kippen der öffentlichen Meinung hoffen: „Es ist wieder einmal offensichtlich geworden, dass die palästinensische Führung nicht willens ist, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen“, sagt Miriam Rosen, Sprecherin des Siedlerrates Jescha: „Wir sind die Schutzschilde Tel Avivs, Jerusalems und Sderots; nur auf uns kann Israel bauen.“

Doch sollte es Anzeichen für einen Stimmungswandel in der Öffentlichkeit geben, der allerdings derzeit nicht erkennbar ist, würde er nach übereinstimmender Ansicht der Medien von den Aktionen zunichte gemacht, die einige der radikaleren Siedlergruppen, die sich Jescha nicht verpflichtet fühlen, für die kommenden Tage planen: Mit Straßensperren und Menschenketten wollen sie Autobahnen und Regierungsgebäude blockieren; das öffentliche Leben soll zum Erliegen kommen: „Es ist nicht davon auszugehen, dass besonders viele Israelis dafür Verständnis aufbringen“, sagt Amnon Rubinstein von der Zeitung HaAretz. „Letzten Endes wird dies, falls es tatsächlich geschieht, der Sache der Siedler mehr schaden als nutzen.“

Doch die Polizeiführung hat geschworen, es nicht soweit kommen zu lassen, und für das gesamte Land Alarmstufe Eins verhängt: „Wir werden nicht zulassen, dass eine kleine Gruppe dieses Land in ein Chaos verwandelt“, sagte Polizeichef Mosche Karami am Dienstag mittag.

So waren schon in den vergangenen beiden Wochen mehrere tausend Polizisten und Soldaten dafür abgestellt, rund um die Jerusalemer Altstadt für Ordnung zu sorgen: Am Jerusalem-Tag hatte die jüdische Splittergruppe Getreue des Tempelbergs versucht, sich Zutritt zur drittheiligsten Stätte des Islam zu verschaffen. Ausschreitungen mit Verletzten und hohen Sachschäden waren die Folge.

So bereitet sich die Regierung auf einen heißen Sommer vor: „Wir rechnen mittlerweile fest mit erheblichem Widerstand“, sagt ein Mitarbeiter des Ministeriums für innere Sicherheit. Er widerspricht damit der offiziellen Sichtweise, in der die Gegenwehr minimal sein wird und sich mittlerweile 4000 Siedler dazu bereit erklärt hätten, ins israelische Kernland umzuziehen – Beweise gibt es dafür ohnehin nicht. Jonathan Bassi, Leiter der für die Räumung zuständigen Regierungsbehörde SELA, war auch auf Bitten mehrerer inländischer und ausländischer Korrespondenten nicht dazu bereit, die Namensliste vorzulegen, deren Existenz die Regierung immer wieder beteuert. „Datenschutz“, erklärte der 54jährige jedes Mal.

Dass die Sicherheitsorgane zunehmend nervöser werden lässt sich auch am Verhalten von Verteidigungsminister Schaul Mofas erkennen: Mehrmals ordnete er in den vergangenen Wochen an, die Armee solle den Siedlern die Waffen abnehmen, die einst ausgegeben wurden, um ihnen die eigene Verteidigung zu ermöglichen, nur um dann in letzter Minute auf Anraten des Generalstabes einen Rückzieher zu machen.

„Es ist eine schwierige Frage: Auf der einen Seite besteht die Möglichkeit, dass diese Waffen bald gegen die israelische Polizei gerichtet werden könnten“, erklärt der Sicherheitsexperte Mickey Levy. „Auf der anderen Seite würde es zusätzliche Reibungspunkte erzeugen, jetzt diese Waffen zu beschlagnahmen, weil die Siedler sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht freiwillig herausgeben werden.“