"Dieses Tribunal wird nicht unbeachtet bleiben“

In Istanbul berieten Menschenrechtsorganisationen und Intellektuelle drei Tage lang über den Krieg in Irak

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Als Lord Bertrand Russel 1967 ein Internationales Tribunal über die amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam“ einberief, gab es keine andere Möglichkeit, dem attackierten Land international Gehör zu verschaffen: Ende der sechziger Jahre existierte noch kein unabhängiger internationaler Strafgerichtshof, der eine Klage hätte annehmen können. Doch ging es den Russel-Tribunalen nicht darum, Gerechtigkeit herzustellen. Allein die Wahrheit über den laufenden Krieg sollte ans Tageslicht gebracht werden. Als Vorbild dienten Russel die Nürnberger Prozesse, von denen gut zwanzig Jahre zuvor die Verbrechen der deutschen Nazis dokumentiert und überliefert wurden. Diesem Vorbild sollten zwar auch die inzwischen bestehenden internationalen Gerichte, etwa der Internationale Strafgerichtshof, folgen. „Doch droht diese Aufgabe in der Konstruktion der modernen Tribunale als Siegerjustiz unterzugehen“, schrieb der Hamburger Völkerrechtler Norman Paech im Vorfeld des Istanbuler Irak-Tribunals.

Arundhati Roy war Sprecherin der Jury. Foto: WTI/Ali Öz

Gut drei Jahre nach dem Angriff auf Irak haben sich daher erneut Kriegsgegner aus aller Welt zu einem Tribunal zusammengefunden. Zum dritten Mal saßen sie am vergangenen Wochenende in Istanbul über mutmaßliche und belegte Kriegsverbrechen der US-Truppen in Irak „zu Gericht“. Auch bei dem Welt-Tribunal über den Irakkrieg (WTI) geht es nicht darum, Schuldige zu benennen, um ihre Strafen zu bestimmen. „Wir wollen hier nicht den Weltfrieden herstellen“, sagte die indische Schriftstellerin Arundhati Roy zu Beginn der Veranstaltung am vergangenen Freitag, „sondern den Menschen Informationen liefern, die sonst im Dunkeln geblieben wären“.

Während die Geschichte immer von den Gewinnern geschrieben werde, versuche das WTI, den Unterdrückten eine Stimme zu geben. Ein 58köpfiges Gremium aus Juristen und Kriegszeugen gab dazu über drei Tage hinweg Aussagen und Analysen zu Protokoll. Material lag zudem von den letzten beiden Sitzungen in Brüssel und New York vor. Am Ende präsentierte die 17köpfige „Jury des Gewissens“ eine Abschlusserklärung mit Erkenntnissen und Empfehlungen. Ganz oben auf der Liste: „Der sofortige und bedingungslose Rückzug der Koalitionstruppen aus Irak.“

Hans-Christof von Sponeck nahm an dem Welt-Tribunal in Istanbul teil. Sponeck arbeitet seit 1968 für die Vereinten Nationen. Für das UN-Entwicklungsprogramm UNDP war er in Ghana, Pakistan, Botswana und Indien. Im Herbst 1998 trat er die Nachfolge von Denis Halliday als Koordinator des humanitären UN-Hilfsprogramms für Irak an, bis er im Februar 2000 aus Protest gegen die Fortsetzung der Sanktionen seinen Rücktritt einreichte. Telepolis sprach mit dem Diplomaten.

"Freiheit und Demokratie können nicht mit militärischen Mitteln und politischer Korruption weitergegeben werden"

Phil Shiner, Turgut Tarhanli, Larry Everest und Hans von Sponeck. Foto: WTI/Ali Öz

Wie kann eine Veranstaltung wie das Irak-Welt-Tribunal (WTI) auf das Geschehen in Irak aufmerksam machen?

Hans-Christof von Sponeck: Indem es, wie in Istanbul geschehen, auf die Geschehnisse im Irak während der Wirtschaftsanktionen, in der Zeit der Invasion und der Besatzung hingewiesen hat. Mittel dazu waren die Aussagen ernst zu nehmender Zeitzeugen.

Mit welchen Erkenntnissen sind Sie denn aus Istanbul zurückgekehrt?

Hans-Christof von Sponeck: Eine Weltöffentlichkeit ist nicht bereit zu akzeptieren, dass nur die Verbrechen des irakischen Diktators Saddam Hussein vor Gericht gestellt werden. Ihre Forderung ist: Auch die, die für viele Jahre die internationale Irakpolitik geführt haben und damit einer unschuldigen Bevölkerung unsägliches Leiden zugefügt haben, die internationales Recht ignorierten, die die Vereinten Nationen in die Ecke stellten, die Wahrheit manipulierten, müssen ebenso zur Verantwortung gezogen werden.

Das Beweismaterial, dass sowohl die Regierungen Bush und Blair sich schuldig gemacht haben, ist heute nicht mehr nur in den Händen von Juristen, Menschenrechtlern und anderen Fachleuten, sondern im Besitz der Öffentlichkeit. An dem Istanbul-Tribunal hat eine erstaunlich gut informierte Öffentlichkeit teilgenommen. Mit wenigen Ausnahmen kamen dort keine ideologisch gefärbten Fanatiker zusammen, sondern besorgte Menschen aller Altersklassen und aller Regionen der Erde. Zum Ausdruck kam die Sorge um das Versäumnis der Politiker, mit Mut und Integrität einer verwirrten und fanatischen Weltmacht Amerika klar zu machen, dass Freiheit und Demokratie nicht mit militärischen Mitteln und politischer Korruption weitergegeben werden können. Istanbul hat gezeigt, dass eine beunruhigte Weltöffentlichkeit instinktiv die Rolle von einem gescheiterten UN-Sicherheitsrat übernommen hat, das internationale Gewissen zu vertreten.

Das WTI sieht sich in der Tradition der Tribunale von Nürnberg oder Tokio. Es geht bei dem WTI aber nicht um eine juristische Aufbereitung?

Hans-Christof von Sponeck: Das WTI ist kein Tribunal im Sinne der Tribunale von Nürnberg und Tokio. Das Tribunal hat aber großen symbolischen Wert, der in der weltpolitischen Diskussion nicht unbeachtet bleiben wird. Darüber hinaus wird die Arbeit des Istanbul-Tribunals und der vorausgegangenen Irak-Tribunale in anderen Teilen der Welt den vielen juristischen Bemühungen, die Regierungen Bush und Blair zur Verantwortung zu ziehen, von großem Nutzen sein. In Istanbul ist wichtiges empirisches Aussagematerial über rechtliches und moralisches Vergehen der Mächte vor, während und nach dem Krieg zusammen gebracht worden.

Im Fall dieser historischen Tribunale von Nürnberg hat es Jahre gedauert, bis die Erkenntnisse in den nationalen Geschichtsdiskurs eingeflossen sind. Welche Perspektive sehen Sie denn für den Irak? Wann und – wichtiger noch – unter welchen Umständen wird eine Aufbereitung des Krieges im Land selber möglich sein?

Hans-Christof von Sponeck: Seit Nürnberg ist die Welt viel kleiner geworden. Die Welt von 2005 hat eine leicht zugängliche Informationsrealität, der man nicht lange ausweichen kann. Die Weltöffentlichkeit sieht in der Handhabung des Irakkonflikts durch die USA und Großbritanniens eine politische Herausforderung, der man entgegentreten muss. Daher wird sich eine öffentliche Diskussion intensivieren, die von Politikern nicht ignoriert werden kann, besonders auch deshalb nicht, weil die großen Themen unserer Zeit – Demokratie, Marktwirtschaft, nationale Unabhängigkeit, Entwicklung, Armutsbekämpfung und Menschenrechte – mit der Situation im Irak eng verknüpft sind.

Wie reagieren denn bislang die “zuständigen Institutionen”, etwa der Internationale Strafgerichtshof oder das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte, auf die Initiative des WTI?

Hans-Christof von Sponeck: UNO, Menschenrechtskommission, Hochkommissariat für Menschenrechte, Internationaler Gerichtshof schweigen bislang. Das liegt auch an einem Versäumnis der Tribunale, diese Institutionen einzuladen und sich mit ihnen auseinander zu setzen.

Sie waren selber von 1998 bis 2000 Leiter des UN-Hilfsprogramms für Irak, bis Sie aus Protest gegen die Sanktionen zurücktraten. Wissen Sie denn, aus Kontakten mit ehemaligen Kollegen etwa, wie die Auswirkungen des Krieges innerhalb der UN diskutiert werden?

Hans-Christof von Sponeck: Wenn man unter den Beamten der Vereinten Nationen eine Abstimmung durchführen könnte, würden Regierungen und Weltöffentlichkeit erfahren, dass Mitarbeiter der UNO der Charta treu sind und den Krieg, vorher die Sanktionen und danach die brutale und hegemoniale Durchsetzung der Kriegsziele in überwältigender Mehrzahl ablehnen und verurteilen. Ich spreche mit vielen UN-Mitarbeitern. Ich habe bisher keinen getroffen, der in dem amerikanisch-britischen Vorgehen etwas Gutes sieht.