Zurück ins Dunkle Mittelalter?

Eine Analyse der technischen Innovationsrate kommt zu dem Ergebnis, dass wir uns dem Mittelalter wieder annähern, während die kreativste Periode Ende des 19. Jahrhunderts gewesen sein soll

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Wahrscheinlich hat es niemals mehr Wissenschaftler und Techniker gegeben als in unserem digitalen Zeitalter des geistigen Eigentums. Forschung wird immer wichtiger, so hört man, um in der globalen Gesellschaft mit der Innovationsgeschwindigkeit mithalten und geistiges Eigentum schaffen zu können, das sich etwa in der Zahl der Patente oder Urheberrechte niederschlägt.

Vor allem seit dem Aufkommen der digitalen Informations- und Kommunikationstechniken, aber auch mit der Bio- und Nanotechnologie scheint sich die Innovationsrate noch einmal beschleunigt zu haben, was man auch daran messen könnte, wie schnell Techniken veralten und durch neue Versionen ersetzt werden müssen. Aber dieser Anschein trügt, meint der Physiker Jonathan Hübner in dem Artikel A possible declining trend for worldwide innovation, der in der Zeitschrift Technological Forecasting and Social Change erschienen ist.

Nach Huebner hat die Innovationsrate bereits 1873 einen Höhepunkt erreicht und ist seitdem nahezu im Sturzflug. Huebner stützt sich dabei auf die Zahl der Innovationen und wissenschaftlichen Durchbrüche im Verhältnis zur Weltbevölkerung. Als Grundlage benutzt er das 2004 erschienene Buch The History of Science and Technology von Bryan Bunch und Alexander Hellemans, aus dem er die Liste der 7200 "wichtigen" Innovationen übernimmt, die seit dem Ende des "dunklen Mittelalters" (1453) bis zur Gegenwart entstanden sind. Die Selektion nach "Wichtigkeit" ist natürlich im Einzelnen anfechtbar, zudem bezieht Huebner die Zahl der Innovationen auf die Zahl der Weltbevölkerung.

Daraus resultiert dann eine Glockenkurve mit der Spitze in der Zeit der industriellen Revolution um etwa 1873, dann fallen die wichtigen Innovationen pro Jahr und einer Milliarde Menschen wieder stark ab: von 16 auf 7. Und eine Rate 7 Innovationen pro Jahr und pro einer Milliarde Menschen entspricht angeblich der, die es um 1600 gegeben hat. Sollte dies zutreffen, dann würden wir, wie Huebner schreibt, uns wieder einem Zustand wie im Dunklen Mittelalter nähern. Das wäre, würde die Entwicklung so weitergehen, recht bald, nämlich bereits im Jahr 2024.

Immer langsamer oder immer schneller voran?

Offenbar ist es, so zitiert New Scientist Huebner, trotz wesentlich besserer Ausbildung und höheren Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen, "heute für die Menschen schwieriger, neue Technologien zu entwickeln." Zwar sage er nicht vorher, dass das Dunkle Mittelalter tatsächlich 2024 eintreten werde, aber jetzt seien bereits 85 Prozent der Technologien entwickelt worden, die wirtschaftlich überhaupt realisierbar seien, was immer das genauer heißen mag. 2018 liege der Wert bereits bei 90 % und 2038 bei 95%. Der Spielraum werde also immer enger. Ähnlich argumentiert im Hinblick auf Wissenschaft John Horgan in seinem Buch Ende der Wissenschaft. Das widerspricht diametral den Ansichten anderer Theoretiker, die nicht nur weiteren technischen Fortschritt, sondern gar eine exponentielle Zunahme der Innovationen vorhersagen.

So meint etwa der allerdings stets sehr optimistische und spekulative KI-Experte Ray Kurzweil, dass das Mooresche Gesetz der stetigen Zunahme an Komplexität von integrierten Schaltkreisen neue Berechnungsmöglichkeiten eröffne, die wiederum den Fortschritt beschleunigen und eine Maschinenintelligenz realisiert, die die menschliche bei weitem übertrifft. Das ergebe eine Singularität in der menschlichen Geschichte, da der Fortschritt so schnell und tiefgreifend sein werde, dass sich die Grundlage der menschlichen Geschichte verändert.

Huebner geht von der Vorstellung aus, dass sich technisch-wissenschaftlicher Fortschritt wie ein Baum entwickelt. Vom Stamm ausgehend bilden sich die Äste aus, die große technische Gebiete darstellen und sich immer weiter ausdifferenzieren zu Zweigen und Blättern. Damit hat man von vorneherein eine Begrenzung der Entwicklungsmöglichkeiten eingezogen, in der kaum noch wirklich Neues entstehen kann. Die Menschen hätten, so meint denn auch Huebner, bereits die meisten der großen Äste am Baum der Technologie entdeckt. Nanotechnologie-Papst Eric Drexler ist damit allerdings gar nicht einverstanden, wie New Scientist berichtet. Alleine Nanotechnologie werde die von Huebner vorhergesagten Trends außer Kraft setzen. Tatsächlich könnte das Bild von dem einen Baum der Technologie in die Irre führen. Man könnte nicht nur von mehreren Bäumen ausgehen, sondern auch von solchen, die noch ganz klein sind. Und wenn biologische oder Nano-Maschinen bzw. überhaupt intelligente Maschinen ans Ruder der technischen Innovation gelangen, wären Vergleiche mit der menschlichen Geschichte und die Bedeutung von Innovationen für den Menschen ebenso wenig wie deren Zahl keine entscheidenden Kriterien mehr.

Huebner zieht noch eine weitere Entwicklung heran, nämlich die Zahl der in den USA von 1790 bis heute verliehenen Patente. Hier ist es so, dass die Zahl der Patente, die in einem Jahrzehnt gegeben wurden, im Verhältnis zur Bevölkerung der USA um 1915 einen Höhepunkt erreicht habe. Bis 1985 geht das Verhältnis um die Hälfte zurück, von 1985 bis 1999 geht es noch weiter abwärts. Dann sei der Stand um 75 Prozent niedriger als 1915.

Allerdings spielt nicht nur die von subjektiven Kriterien abhängige Bewertung und Auflistung der "wichtigen" oder "bedeutsamen" Innovationen für die Innovationsrate eine entscheidende Rolle, auch das Verhältnis Innovation/Bevölkerung ist schwierig als Maßstab. So ist ein exponentielles Wachstum der Weltbevölkerung eingetreten, das möglicherweise höher ist als die technische Innovationsrate pro Kopf, aber die Bevölkerungszunahme unterscheidet sich regional erheblich. Lange Zeit waren eher die westlichen Industrieländer technisch innovativ, das aber beginnt sich in den letzten Jahrzehnten allmählich zu verändern. Allerdings scheint in Bezug auf Patente das gegenüber Entwicklungsländern geringere Bevölkerungswachstum in den USA auch den Trend zu bestätigen. Wie auch immer, die Ergebnisse von Huebner geben zu denken und geben auch Anlass, das Selbstbild des eigenen Zeitalters einmal in Frage zu stellen, auch wenn dies der persönlichen Erfahrung und dem Blick zurück in die Zeit der industriellen Revolution zu widersprechen scheint.