Städte verstehen sich als "key player"

„Leipziger Statement“ zur Rolle von Städten in der Informationsgesellschaft

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Städte sollen und müssen einen größere eigenständige Rolle in der Informationsgesellschaft spielen, tragen eine höhere Verantwortung für den Online-Kontakt zwischen staatlicher Verwaltung und Bürger und benötigen daher auch mehr Ressourcen für die Umsetzung von lokalen und regionalen eGovernment-Strategien. Dies ist das Fazit der europäischen Vorbereitungskonferenz für den „Weltgipfel der Städte in der Informationsgesellschaft“. Der Städteweltgipfel selbst findet vom 9. bis 11. November 2005 im spanischen Bilbao statt, eine Woche vor dem zweiten UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS II) .

Der Genfer Oberbürgermeister Christian Ferrazino, der auch Präsident des „Digitalen Solidaritätsfonds“ ist (Bezahlt doch Euer Internet alleine!), rief die europäischen Städte auf, nicht nur eigene lokale Projekte zur Bewältigung der Herausforderungen des Informationszeitalters zu entwickeln, sondern dies in enger Kooperation mit anderen Städten, insbesondere auch in der Drittel Welt, zu leisten. Es wäre falsch, eine solche Nord-Süd Kooperation zwischen Städten aus der europäischen Perspektive vornehmlich als Belastung zu sehen. Solche Kooperationen eröffneten auch den entwickelten europäischen Städten neue Möglichkeiten und seien ein ideales Feld für projektbezogene „Win-win-Situationen“, in Sonderheit bei der Entwicklung passgerechter Softwarelösungen mit „Free and Open Source Software“ (FOSS). Der im Rahmen des WSIS-Prozesses im März 2005 gegründete „Digitale Solidaritätsfonds“ (Rollt oder rollt er nicht, der WSIS-Rubel?) verfügt bereits über Einlagen von mehreren Millionen Euros. Ferrazino forderte die Teilnehmer auf, das „Geld dorthin zu packen, wo der Mund ist“.

Hubert Julien-Laferriere, Bürgermeister von Lyon, im Dezember 2003 Gastgeberstadt des 1. Städteweltgipfels, zeigte sich unzufrieden mit der Umsetzung der in der „Lyon Declaration“ fixierten Programme. Die Staats- und Regierungschefs hätten in Genf bei WSIS I die spezifische Rolle von lokalen und regionalen Verwaltung weitgehend ignoriert. Das müsse bei WSIS II korrigiert werden.

Vertreter von europäischen regionalen Organisationen wie Global Cities Dialogue, United Cities and Local Governments, Telecities und die European Regional Information Society Association (ERIS@) unterstrichen, dass gerade die lokalen und regionalen Verwaltungen die Hauptansprechpartner für Bürger und Unternehmen sind, wenn es um jene in der WSIS-Deklaration genannten eGovernment-Dienste geht. Häufig seien aber gerade die Kommunen diejenigen, die über die geringsten Fonds zur Entwicklung von eGovernment verfügten.

Karl Otto Feger von der Sächsischen Anstalt für kommunale Datenverarbeitung (SAKD) machte an praktischen Beispielen deutlich, dass sich auch in Deutschland das Geld häufig nicht dort befindet, wo die Bürger sind. Der Freistaat Sachsen versuche mit kreativen Vereinbarungen diesen Trend umzukehren. Das gilt insbesondere für das Modell „Einer für Alle“, wonach geförderte lokale eGovernment-Lösungen für alle Kommunen kostenlos nutzbar gemacht werden. Das, so Feger, fördere nicht nur die Kommunikation bei C2G (Bürger zur Verwaltung) oder B2G (Unternehmen zur Verwaltung), sondern auch bei G2G, d.h. die elektronische Kommunikation zwischen Verwaltungen, ein häufig unterschätztes Potential zur Mobilisierung zusätzlicher Ressourcen.

Auch Stefan Gläser, Präsident des Städtetages Baden-Württemberg, unterstrich, dass durch gemeinsame Erledigung von Geschäftsprozessen Kosten drastisch gesenkt werden können. Alle Verwaltungen müssten nicht das Gleiche tun. Aufgaben, wie Personalabrechnungen, Buchungen, Gebührenmanagement u.a. können gemeinsam in Shared-Service-Centern abgewickelt werden. Die Kooperationen sollten sich nicht nur auf die Nachbarkommunen beschränken. Denkbar sind auch Kooperationen mit Kommunen aus anderen Regionen oder aus anderen Ländern, um leistungsstarke Potenziale von Kommunen für Dienstleistungen virtuell zusammenzubringen. Hier lägen langfristig die größten Potenziale.

Dieter Klumpp, Direktor der ALCATEL-SEL Stiftung, beklagte eine Verschwendung von Forschungsressourcen. Die vor dreißig Jahren entwickelte Ausschreibungspraxis von Forschungsprojekten hätte sicher ihre Vorteile, wenn aber auf ein Projekt zwanzig Bewerber kämen und 19 davon umsonst arbeiteten, sei dies eine systematische Vernichtung von brauchbarem Wissen und Forscherenergien. Auch Chris Newby aus Liverpool, Präsident von Telecities, beklagte das Missverhältnis von Aufwand und Nutzen bei kommunalen Beteiligungen an Ausschreibungen der Europäischen Kommission für das 6. Rahmenprogramm für Forschung und Entwicklung. Das jüngst von der Brüsseler Kommission verabschiedete i2010 Europe Program, das u. a. eine Verdoppelung der Ausgaben für Forschung im ICT Bereich bis zum Jahr 2010 vorsieht, sei mehr als zu begrüßen. Wenn es jedoch nicht gelänge, die Verfahren zur Forschungsförderung drastisch zu vereinfachen, drohe der gewünschte Effekt zu verpuffen.

Prof. Roland Traunmüller von der Universität Linz kritisierte, dass der bereits vor 30 Jahren entwickelte Leitspruch, dass die Daten laufen sollten und nicht die Bürger, noch immer nicht umgesetzt ist. Auch Frank Beutling von PC Ware Leipzig, kritisierte, dass trotz aller Versprechungen die bürokratischen Hemmnisse bei der Entwicklung innovativer eGovernment-Lösungen an der Basis noch enorm hoch sind. Eines der Probleme sei, dass häufig das Leitungspersonal in lokalen und regionalen Verwaltungen nicht ausreichend auf dem IKT-Gebiet qualifiziert ist. Solange sich Bürgermeister ihre Emails noch von der Sekretärin ausdrucken lassen und dann wie früher die Post „per Diktat“ beantworten, wird sich da auch nicht viel drehen, meinte ein frustrierter Konferenzteilnehmer.

Interessante Beispiele kamen bei der Leipziger Tagung aus dem Osten. Hannes Astok, Vizebürgermeister aus dem estnischen Tartu, berichtete, mit welch rasender Geschwindigkeit in den letzten Jahren die Verwaltung in Estland informatisiert wurde. Vorgänge mit Papier sind selten geworden. Nun soll sogar erstmalig bei den kommenden Wahlen auch die Stimmabgabe per Internet möglich sein. Alexander Demidov aus St. Petersburg berichtete, dass die russische 5-Millionen-Stadt zwar Schwierigkeiten habe, flächendeckend Breitband auszulegen, dass man als Alternative aber an drahtlosen breitbandigen Internetzugängen arbeite. St. Petersburg eine Wi-Max City, warum nicht? Am Rande der Leipziger Tagung gab es ein bilaterales Treffen mit der Stadtverwaltung Stuttgart, die mit den Petersburgern einige Gemeinschaftsprojekte implementieren wollen.

Innovative Partnerschaften sowohl zwischen Städten als auch innerhalb von Städten forderte Gordon Feller vom World Bank Institute. Fast alle Großstädte hätten Universitäten, die häufig über eine sehr gute Infrastruktur auf ihrem Campus verfügten, deren Kapazitäten aber oft unternutzt sei. Hier gäbe es nicht wenige Reserven, vor allem auch dann, wenn Unternehmensausgründungen aus universitären Forschungsprojekten erfolgten. Das könne nicht unerheblich zur Entwicklung einer lokalen IT-Industrie beitragen. Dabei komme es nach den Worten von Louise Lassonde von UNITAR, Mitveranstalter der Leipziger Konferenz, zunehmend darauf an, die in der UN Milleniums Declaration vom Jahr 2000 verankerten Entwicklungsziele mit den im Rahmen des WSIS-Prozesses geplanten Projekten zu verbinden.

In ihrem Abschlussbemerkungen unterstrich Christine Trautmann, Mitglied des Europäischen Parlaments und Berichterstatterin des "Komitees für Industrie, Forschung und Energie" für das Thema Informationsgesellschaft, dass es mehr denn je um eine enges Zusammenwirken zwischen allen Stakeholdern gehe. Dort, wo zwischen Verwaltung, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft der richtige Mix für Projektentwicklung und Implementierung gefunden wird, bleiben Erfolge, die sich in neuen Jobs und Wachstum niederschlagen, nicht aus.

Leipzigs Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee hatte die Tagung eröffnet. Das von den Konferenzteilnehmern verabschiedete „Leipzig Statement“, das 26 Einzelempfehlungen enthält, wird neben den Empfehlungen der anderen drei Vorbereitungskonferenzen – in Shanghai für Asien, in Sao Paulo für Lateinamerika und in Dakar für Afrika – in die Bilbao-Dokumente einfließen. Die „Bilbao Declaration“ soll dann den Staats- und Regierungschefs eine Woche später in Tunis bei WSIS II präsentiert werden. Die Städte – so jedenfalls die klare Botschaft aus Leipzig - wollen bei der Gestaltung der Informationsgesellschaft nicht Zaungäste sein, sondern betrachten sich selbst ein „key player“, ohne deren Integration in den Gesamtprozess die WSIS-Implementierung nicht recht vorankommen wird.