"Verfassungsgericht muss Entscheidung treffen"

Die Verurteilung des ersten Online-Demonstranten ist in juristischen Kreisen umstritten

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Zum ersten Mal musste ein deutsches Gericht über eine „Online-Demonstration“ entscheiden. Am 1. Juli fiel das Urteil im Prozess gegen die Flüchtlingsinitiative Libertad!, die drei Jahre zuvor zur Blockade der Internetseite der Lufthansa AG aufgerufen hatte, um gegen den Transport von Abschiebehäftlingen durch das Flugunternehmen zu protestieren (Kein digitaler Sturzflug des Kranich?). Thomas-Andreas Vogel, Libertad!-Mitglied und Betreiber zweier Internetseiten, auf denen zum Protest aufgerufen wurde, soll nun 900 Euro zahlen. Er habe zur Nötigung aufgerufen (Grundrecht hinkt nach).

Telepolis befragte Martin Kutscha, Staats- und Verfassungerechtler an der Berliner Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege und Bundesvorsitzender der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ).

Im Verfahren um die erste Online-Demonstration Deutschlands ist das Recht auf einen „virtuellen Protest“ vom Amtsgericht Frankfurt abschlägig beschieden worden. Der Beklagte, so begründete die Richterin ihr Urteil Anfang Juli, habe mit der Aktion dazu motiviert, der Lufthansa AG „empfindliches Übel“ zuzufügen. Sie sah sogar eine Gewaltanwendung gegeben. Wie bewerten Sie dieses Urteil aus dem verfassungsrechtlichen Standpunkt?

Martin Kutscha: Auf keinen Fall kann man in diesem Fall von Gewalt sprechen, weil dies physische Gewalt bedeuten würde. Im Sinne des Nötigungstatbestandes ist der Gewaltbegriff so definiert, dass eine Person dazu gezwungen werden muss, etwas Bestimmten zu tun oder zu unterlassen. Das hat das Bundesverfassungsgericht in seiner so genannten zweiten Blockadeentscheidung ganz deutlich herausgestellt. Es kann also nur die zweite Tatalternative in Betracht kommen, nämlich „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ ...

... womit das Urteil schließlich ja auch begründet wurde.

Martin Kutscha: Nur ist dies im Hinblick auf die Verwerflichkeit zu beurteilen. Worin die „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ besteht, erschließt sich nicht aus dem Strafgesetzbuch. Hier bedarf es einer genauen Prüfung des Verhaltens im Einzelfall. Und dabei müssen auch die Grundrechte berücksichtigt werden.

Der Beklagte argumentierte mit seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, das auch im virtuellen Raum Anwendung finden müsse. Sie teilen diese Ansicht nicht. Weshalb?

Martin Kutscha: Ich meine, dass als Versammlungen wirklich nur körperliche Zusammenkünfte von Menschen zu bezeichnen sind. Menschen müssen also auf der Straße oder auf einem Platz real zusammenkommen, nicht nur virtuell im Internet.

Trotzdem stimmen Sie dem Urteil nicht zu.

Martin Kutscha: Das stimmt. Ich möchte darauf hinweisen, dass solche „Online-Demonstrationen“ unter Juristen umstritten sind. Es gibt durchaus Kolleginnen und Kollegen, die solche „Internet-Demonstrationen“ als Versammlungen betrachten. Bis jetzt gibt es keine verbindliche Rechtsprechung dazu. Auch deswegen wäre es höchste Zeit, dass sich das Bundesverfassungsgericht dazu äußert.

Ich bin der Meinung, dass zwar nicht die Versammlungsfreiheit, wohl aber das Grundrecht auf Meinungsfreiheit hätte beachtet werden müssen. Wir hatten es bei dieser Aktion vor drei Jahren mit einer massenhaften Inanspruchnahme der Meinungsfreiheit zu tun. Insofern greift Artikel 5, Absatz 1 des Grundgesetztes, nicht aber Artikel 8. Beide Grundrechte – das auf Versammlungs- und das auf Meinungsfreiheit – haben ein gleich hohes Gewicht.

Ist das Grundrecht auf Meinungsfreiheit denn auch dann gegeben, wenn durch eine Protestaktion ein materieller Schaden entsteht? Damit hatte die Lufthansa AG argumentiert ...

Martin Kutscha: Ja, das tut der Sache gar keinen Abbruch. Auch eine Meinungsäußerung, die in der Folge Vermögensschäden verursacht, ist grundsätzlich durch das Grundrecht auf Meinungsfreiheit geschützt. Es sei denn, die so genannten Grundrechtsschranken kommen zur Geltung. Das können Strafgesetzte sein. Das Besondere ist nun aber, dass ein offener Straftatbestand wie Nötigung seinerseits wieder im Lichte des Grundrechtes auf Meinungsfreiheit interpretiert werden muss. Das hat das Bundesverfassungsgericht seit den fünfziger Jahren in kontinuierlicher Rechtssprechung bestätigt.

Der Anwalt der Verteidigung hat beklagt, dass eine Reihe von Beweisanträgen abgelehnt wurde. Hat das Frankfurter Amtsgericht eine Chance vertan?

Martin Kutscha: Wahrscheinlich wollte es sich die Richterin hier etwas zu leicht machen und die Sache vom Tisch haben. Ich denke schon, dass hier etwas mehr Aufwand besser gewesen wäre. Wenn nicht ausreichend rechtliches Gehör gewährt wurde, dann ist das natürlich ein juristischer Angriffspunkt, weil auch dies vom Grundgesetz versichert wird.

Sie erwarten aber keine grundsätzlichen Auswirkungen durch das Frankfurter Urteil?

Martin Kutscha: Die wird es erst geben, wenn auch andere entsprechende Gerichtsentscheidungen vorliegen. Ich gehe davon aus, dass es eine zunehmende Praxis politischer Aktivität im Internet geben wird. Auch deswegen würde ich dafür plädieren, Rechtsmittel einzulegen, bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Es muss eine grundsätzliche Entscheidung herbeigeführt werden, weil, auch wenn ich das vorsichtig formulieren möchte, bei manchen Instanzgerichten die notwendige Sensibilität für die Grundrechte fehlt.