Ohrfeige aus Karlsruhe

Das Bundesverfassungsgericht aus Karlsruhe hat heute die deutschen Ausführungsbestimmungen zum Europäischen Haftbefehl für nichtig erklärt

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Mit dem Beschluss ist der Europäische Haftbefehl in Deutschland ab sofort ausgesetzt. Die Entscheidung des zweiten Senats des höchsten deutschen Gerichts ist eine schallende Ohrfeige nicht nur für die Bundesregierung, sondern auch für das Parlament. Schließlich wurde das jetzt für verfassungswidrig erklärte Gesetz mit einer großen Mehrheit verabschiedet.

Die Richter haben nicht den Europäischen Haftbefehl insgesamt als unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt, wohl aber die deutschen Ausführungsbestimmungen. Sie greifen zu stark in die Grundrechte ein. Es seien nicht alle Spielräume zu einer grundgesetzkonformeren Lösung ausgeschöpft worden. Die Richter gingen von dem grundgesetzlichen Verbot aus, deutsche Staatsbürger ins Ausland auszuliefern. Ausnahmen seien nur in engen Grenzen möglich. Die Juristen führten dafür die Unterscheidung des In- und Auslandsbezugs der Tat ein:

Wer als Deutscher im eigenen Rechtsraum eine Tat begeht, muss grundsätzlich nicht mit einer Auslieferung an eine andere Staatsgewalt rechnen. Anders fällt die Beurteilung hingegen aus, wenn die vorgeworfene Tat einen maßgeblichen Auslandsbezug hat. Wer in einer anderen Rechtsordnung handelt, muss damit rechnen, hier auch zur Verantwortung gezogen zu werden.

Damit öffnet das Urteil die Auslieferungsmöglichkeiten für Straftaten wie Drogenkriminalität oder internationaler Terrorismus, die in der Regel diesen Auslandsbezug haben. In einem Sondervotum wollte Richter Bruß noch engere Grenzen für eine Auslieferung deutscher Staatsbürger setzen. Sie komme auch bei Taten mit einem Auslandsbezug nur dann Frage, wenn in Deutschland kein Verfahren möglich ist.

Weiterhin bemängelt das Bundesverfassungsgericht, dass nach dem bisherigen Gesetz keine juristischen Einspruchsmöglichkeiten gegen eine Auslieferung mehr möglich sind. Künftig müsse wieder jeder Fall einzeln geprüft werden, bevor jemand abgeschoben werden kann. Gerade diese Regelung sollte den Europäischen Haftbefehl ausgeschlossen werden.

Eigentlich passt die Entscheidung nicht in die politische Landschaft. In den letzten Tagen nach den Terroranschlägen von London wurde verstärkt über eine verbesserte europaweite Koordination der Strafverfolgung geredet. So sprach denn auch Bundesjustizministerin Zypries in einer ersten Reaktion auf das Urteil von einem Rückschlag für den internationalen Kampf gegen den Terror. Sie kündigte eine neue Gesetzesvorlage in den nächsten Wochen an. Auch die Deutsche Polizeigewerkschaft kritisierte das Urteil scharf.

Die Europäische Kommission reagierte auf das Urteil wie schon bei den Abstimmungsniederlagen der EU-Verfassung. Am Europäischen Haftbefehl werde nichts geändert. Die Mängel liegen im deutschen Grundgesetz, erklärte ein Sprecher der EU-Kommission in Brüssel.

Als Folge des Urteils muss der Hamburger Geschäftsmanns Mamoun Darkazanli freigelassen werden. Dem Deutsch-Syrier werden Kontakte zu Al-Qaida bzw. dem Netzwerk nahe stehende Gruppen vorgeworfen ("Schlüsselfigur" von al-Qaida in Europa). Trotz Überwachung reichten allerdings in Deutschland die Verdachtsmomente nicht für die Erhebung einer Anklage. Die spanische Justiz wiederum will konkretere Beweise für Darkazanlis Zusammenarbeit mit terroristischen Islamistengruppen haben und forderte seine Auslieferung. Die deutsche Justiz wollte dem Auslieferungsersuchen nachgeben. Doch Darkazanlis Anwalt ging vor das Bundesverfassungsgericht und bekam jetzt Recht. Die unmittelbare Folge des Urteils ist die Freilassung von Mamoun Darkazanli. Solange keine weiteren Verdachtsmomente auftauchen, bleibt er in Deutschland ein freier Mann.

Das Urteil war auch von Bürgerrechtlern mit Spannung erwartet worden. Im Internet gab es darüber eine heftige Debatte. Schließlich stand damit der Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl erstmals auf dem juristischen Prüfstand. Für Heiner Busch von der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/Cilip ist allein das schon eine gute Nachricht. „Es wäre schön, wenn die europäische Integration, wie sie auf dem Gebiet des Strafrechts betrieben wird, in Gefahr geriete“, erklärte er in einem Interview.