Die Wiederentdeckung des Imperiums

Eine alte Herrschaftsstrategie erobert das 21. Jahrhundert

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Im Ersten Weltkrieg blieben das zaristische Russland, das Osmanische Reich und die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn auf der Strecke. Keine 30 Jahre später zerplatzten die Allmachtsphantasien Deutschlands und Japans, und nach dem Zweiten Weltkrieg lösten sich die europäischen Kolonialreiche endgültig in ihre Bestandteile auf. Als mit dem Fall des Eisernen Vorhangs auch noch die Sowjetunion von der Bildfläche der Weltpolitik verschwand, schien sich eine Zeitenwende anzudeuten, wie sie die Menschheit lange nicht gesehen hatte.

1997 stellte der Historiker Alexander Demandt in dem von ihm selbst herausgegebenen Band „Das Ende der Weltreiche“ fest:

Die Selbstauflösung der Sowjetunion am 31. Dezember 1991 schloss das imperiale Zeitalter ab. Seit dreitausend Jahren wurde die Weltpolitik durch Universalreiche bestimmt. Das ist nun vorbei.

Präsident Bush am 20. Januar 2005 bei der Zeremonie zum Beginn seiner zweiten Präsidentschaft. Bild: Weißes Haus

Mit dem Amtsantritt des amerikanischen Präsidenten George W. Bush zeigte sich freilich, dass die vermeintliche historische Bilanz nur eine Momentaufnahme war. Der weltpolitische Führungsanspruch, den die Vereinigten Staaten von Amerika – insbesondere nach den Anschlägen vom 11. September 2001 – artikulierten und in die Tat umzusetzen versuchten, sprach und spricht gegen ein Ende des imperialen Zeitalters, und das gilt schließlich auch für die Reaktion der Gegenseite, die sich explizit gegen diesen Führungsanspruch wendet.

Herfried Münkler hat diese Situation zum Anlass genommen, um eine lange brach liegende oder schon als beendet angesehene Diskussion wiederzubeleben. In seiner Studie „Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten“ versucht Münkler, das imperiale Selbstverständnis der USA in einen historischen Kontext einzubetten, der bis weit in die Antike reicht. Dem Berliner Politikwissenschaftler geht es dabei weniger um sinnfällige Analogien, auch wenn er ihnen bisweilen nicht wiederstehen kann und beispielsweise den hilflosen Versuch der Melier, im Krieg zwischen Athen und Sparta strikte Neutralität zu bewahren, als frühen Präzedenzfall für die amerikanische Unterscheidung „WhoŽs not for us is against us!“ interpretiert.

Die augusteische Schwelle

Doch Münkler weiß natürlich, dass in der historischen Konkretisierung die Gefahr der Unvereinbarkeit steckt und sich die jeweiligen Imperien der Chinesen, Mongolen, Spanier, Holländer, Engländer oder Römer aufgrund ihrer unterschiedlichen Zeitfenster, Handlungsträger, wirtschaftlichen und politischen Zielsetzungen, technischen Errungenschaften, geistigen Spielräume und kulturellen Identitäten nicht ohne weiteres miteinander vergleichen lassen. Er bemüht sich deshalb um eine strukturelle Herangehensweise, die zunächst auf klare Begriffsdefinitionen setzt.

Münkler unterscheidet Imperien hinsichtlich ihrer zeitlichen und räumlichen Ausdehnung, der Durchlässigkeit ihrer Grenzen, dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie sowohl von hegemonialen als auch von imperialistischen Bestrebungen. In Anlehnung an Michael Mann (Geschichte der Macht, 3 Bände, 1990-98) beschreibt er das Verhältnis von politischer, ökonomischer, militärischer und ideologischer Macht als das wesentliche Kriterium für Erfolg und Lebensdauer eines Imperiums. Wenn imperiale Ansprüche oft an der „augusteischen Schwelle“ scheitern – also am Übergang von der Expansions- zur aufwendigeren Konsolidierungsphase, die dem römischen Kaiser Augustus vor 2000 Jahren mit dem Wechsel von der Res Publica Romana zum Imperium Romanum vorbildlich gelungen ist -, so liegt das Münklers Ansicht nach zumeist an der mangelnden Ausbalancierung dieser vier Säulen.

In Großreichen wie dem assyrischen oder dem Steppenimperium der Mongolen, die vor allem auf militärische Macht gegründet waren, sei das Überschreiten dieser „augusteischen Schwelle“ praktisch ebenso unmöglich gewesen wie in den sogenannten Seeimperien der Portugiesen, Spanier oder Holländer, die sich auf die wirtschaftliche Ausbeutung der beherrschten Landstriche und Bevölkerungen konzentrierten.

Über Aufstieg und Dauer eines Imperiums entscheiden unter anderem die Austauschbedingungen und Konvertierungsformen der einzelnen Machtsorten. Außerdem regulieren sie die Zyklen, die von Imperien mit größerer Dauer mehrmals durchlaufen werden.

Herfried Münkler

Um möglichst lange im Besitz der Macht zu bleiben, kommt es nicht nur darauf an, die militärische Überlegenheit aufrecht zu erhalten, für die Reformfähigkeit und Erneuerungsbereitschaft der politisch Verantwortlichen und der Verwaltungselite zu sorgen und permanent eine neue wirtschaftliche Dynamik zu entfalten, sondern ganz besonders auch darauf, die historische Mission des Imperiums mehrheitsfähig zu definieren. Auch in ideologischer Hinsicht war das Römische Reich ein Vorbild, wurde es doch von seinem Dichter Vergil in dem Versepos „Aeneis“ – zur Begeisterung von Kaiser Augustus –als „imperium sine fine“ und Heimstatt von Frieden, Freiheit und Menschlichkeit gepriesen:

Stolz wird prangen im dunklen Felle der säugenden Wölfin
Romulus, erben das Reich und Mauern des Mars dort errichten
Und wird das Volk nach dem eigenen Namen „Römer“ benennen.
Diesem setze ich (Jupiter) weder ein Ziel noch Frist für die Herrschaft.
Reich ohne Grenzen sei ihm beschieden. Die grollende Juno,
Die mit Schrecken quält die Erde, das Meer und den Himmel,
wird zum Besseren wenden den Sinn und mit mir dann gemeinsam
Schützen die Römer, die Herren der Welt, das Volk in der Toga.

Vergil, Aeneis, 1. Gesang, Übersetzung: Wilhelm Plankl (Reclam)

Imperiale Dämonologie und Selbstsakralisierung

Das religiöse Pathos, mit dem im heutigen Amerika die globalen Ansprüche verbal und emotional abgedichtet werden, stellt nach Münkler nur eine moderne Variante dieser ausgeprägten „Selbstsakralisierung“ dar, die durchaus ernst genommen und nicht nur als rhetorisches Beiwerk, strategisches Kalkül oder Irrationalität abgetan werden darf.

Hier geht es um den Kern des politischen Selbstverständnisses der USA, von Woodrow Wilsons Zielsetzungen beim Eintritt Amerikas in den Ersten Weltkrieg über Dwight D. Eisenhowers vor Beginn der Invasion in die Normandie geprägte Formel vom „Kreuzzug in Europa“ bis zu Ronald Reagans Charakterisierung der Sowjetunion als „Reich der Finsternis“ und George W. Bushs Begriff einer „Achse des Bösen“, die vom Irak bis Nordkorea reiche.

Herfried Münkler

Die Gegenspieler, die mit gezielten Terrorattacken gegen die „labile psychische Verfassung der Bevölkerung in postheroischen Gesellschaften“ zu Felde ziehen, haben sich aus dem direkten Umkehrschluss freilich ihre eigene Ideologie zusammengebaut.

Im Prinzip ist die imperiale Dämonologie eine ins Religiöse gesteigerte Form des Barbarendiskurses, in dem die Völker, die nicht zum imperialen Herrschaftsbereich gehören, auf eine niedrigere Stufe gestellt und zum potenziellen Objekt imperialer Zivilisierung gemacht werden. Die antiimperiale Dämonologie zahlt das mit gleicher Münze heim, indem sie das imperiale Zentrum zum Hort des Sittenverfalls und der Sünde stilisiert.

Herfried Münkler

Interessanterweise geraten bei diesem Wechselspiel die vermeintlich im Vordergrund stehenden ökonomischen Interessen immer mehr aus dem Blickfeld. Auch wenn sich die Beherrschung bestimmter Gebiete nicht mehr „lohnt“, verlangen die Handlungsimperative des Imperiums die Aufrechterhaltung der Kontrollmechanismen, während der terroristische Gegenangriff gar nicht erst mit Kosten-Nutzen-Rechnungen aufwartet und insofern kaum in Gefahr geraten kann, Prosperitätsversprechen zu brechen.

In Gesellschaften, die weitgehend demokratisch organisiert und dem permanenten Nachweis der eigenen Legitimität ausgesetzt sind, kann das zu erheblichen Problemen führen, denn zumindest von der Bevölkerung werden Kostenfragen gestellt und Vor- und Nachteile imperialer Politik gegeneinander abgewogen. Imperien vom Format der Vereinigten Staaten können deshalb weniger politisch oder militärisch als vielmehr psychisch und wirtschaftlich überlastet und zum Rückzug gezwungen werden.

Ob die USA die „augusteische Schwelle“ tatsächlich überschreiten und sich gegen andere imperiale Kandidaten aus Europa oder Asien behaupten können, muss vorerst abgewartet werden, erscheint unter den gegenwärtigen Bedingungen aber höchst zweifelhaft.

Dabei klingt das Erfolgsrezept, an dem sich nach Münklers Ansicht auch das vergrößerte Europa orientieren muss, um eine entscheidende Rolle in der aktuellen Weltpolitik spielen zu können, vergleichsweise simpel.

Wenn es Imperien gelingt, das Prosperitätsversprechen einzulösen, durch den Barbarendiskurs eine imaginäre Grenze zu errichten, die Überzeugungskraft der imperialen Mission aufrechtzuerhalten und schließlich den Frieden in dem von ihnen beherrschten Raum zu sichern, dann verschafft ihnen das Stabilität und Dauer.

Herfried Münkler

Herfried Münkler ist zweifelsohne eine aufschlussreiche Studie gelungen, die eine Reihe interessanter Erkenntnisse und überraschender Quervergleiche zutage fördert. Allerdings bleibt fraglich, ob der erklärte Verzicht auf moralische Kategorien dem Thema angemessen ist.

Wenn Münkler den Imperien eine fehlende Neutralitätsoption und in deren Folge einen permanenten Interventionszwang zugesteht und den Einfluss von Personen geringer bewertet als die Bedeutung von Strukturen und Vorgaben, stellt sich einmal mehr die Frage nach dem Erfahrungshorizont wissenschaftlicher Betrachtungen und Schlussfolgerungen. Möglicherweise denkt man in den heiligen Hallen der Berliner Humboldt-Universität dann doch anders als auf den Schlachtfeldern im Irak oder in Afghanistan.

Herfried Münklers Buch „Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten“ ist bei Rowohlt (Berlin) erschienen und kostet 19,90 €.