Verrücktes Experiment erfolgreich beendet

Eine Internet-Community schaffte eine Blitzübersetzung des neuen Potter ins Deutsche an einem Wochenende

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wenn Internet-Communities gemeinsame Ziele haben, können sie Erstaunliches leisten. So wurde am Ende des letzten Wochenendes bei Harry-auf-Deutsch.de (HaD) virtuell mit Schampus angestoßen. 45 Stunden und 22 Minuten nach Verkaufsstart am Samstag Morgen, dem 16.7.2005, war das neu erschienene Buch „Harry Potter and the Half-Blood Prince“ via Internet schon komplett auf deutsch übersetzt.

Der organisatorische Ablauf dieser Blitzübersetzung war seit Jahresbeginn im Internetforum von HaD breit diskutiert und detailliert vorbereitet worden. Viele Mitwirkende beteiligen sich schon jahrelang an Aktionen dieser Community. Ihre Motivation: Nichts als der Spaß am gemeinsamen Übersetzen und Diskutieren, und das mit vielen Menschen jeden Alters.

Man einigte sich auf Rechtschreibregeln, die Übersetzung bereits bekannter Begriffe aus Joanne K. Rowlings Universum und stellte einen genauen Zeitplan auf. Drei Tage vor dem Erscheinungstermin war es dann so weit: Nach der Anmeldung des 189sten Übersetzers waren alle Seiten verteilt. Alle sagten zu, sich das englische Buch sofort nach dessen Erscheinen zu kaufen und mindestens eine Seite daraus zügig zu übersetzen

Coverentwurf für die HaD-Übersetzung

CyberKommunikation

Von Samstag Mittag bis Sonntag Nachmittag wurden dann die übersetzten Seiten per Mailumleitung einzeln an 24 Kapitel-Betreuer, "Kapitel-Mugwumps", verschickt. Sie korrigierten sie flüchtig, fügten die gelieferten Einzelseiten zu Kapiteln zusammen, mahnten säumige Übersetzer und forderten auch mal beim "Supreme-Mugwump" einen Ersatzübersetzer an. Ein dreiköpfiges Begriffe-Team, dem alle in Band sechs neu auftauchenden magischen Ausdrücke gemailt werden sollten, stellte diese etwa hundert Begriffe mit Übersetzung in ein umfangreiches Onlinewörterbuch – ein effizientes Computer Supported Collaborative Work (CSCW) mit einfachen Mitteln.

Sonntag Abend, 22:22 Uhr, war es dann geschafft. Die einzelnen Übersetzungen waren zu einer Gesamt-RTF-Datei zusammengefasst. Nachdem ein Programmierer diesen Text mit LaTeX gesetzt hatte, machte sich nach Mitternacht der HaD-Administrator in einer Nachtschicht daran, die Dateien so individualisiert an die Übersetzer zu versenden, dass niemand die Übersetzung unerlaubt an Dritte weitergeben würde.

Die Community Harry-auf-Deutsch.de, im Jahr 2000 von Bernd-Koeleman gegründet, startete als ein kleiner Kreis von ca. 70 Leuten, die den vierten Band "Harry Potter und der Feuerkelch" übersetzten (Was heißt " to apparate" auf deutsch?). Beim nächsten Band drei Jahre später waren schon so viele Fans dabei, dass "Harry Potter und der Orden des Phönix" vom Erscheinen des englischen Originals im Juni 2003 und bis Anfang September vierzigfach übersetzt und in mehreren Stufen lektoriert wurde.

Grundsätzlich gilt bei HaD, dass nur diejenigen, die mit übersetzt haben, eine Kopie der fertigen Übersetzung erhalten. Und anscheinend waren bisher alle Mitglieder so solidarisch, dass sie sich an die auferlegte Verpflichtung hielten, keine Texte aus dieser Community in irgendeiner Form weiter zu gegeben.

Spaß und Stress im Medienmix

In ihrer Auswertung betonten alle Blitzübersetzer den großen Spaßfaktor: „Am besten hat mir gefallen, dass die Zusammenarbeit so vieler Leute an einem Projekt so toll funktioniert hat.“ „Der Zusammenhalt und die Hilfsbereitschaft waren toll.“ Sich auf diese Art ein Buch zu erarbeiten, ist ein intensiver Zugang zu Literatur: „Ich habe ich das Gefühl, das Buch intensiver erlebt zu haben als den 5. Band. Ich bin soeben fertig geworden und fühle mich jetzt ein bisschen, als wäre ich gerade aus diesem grünen Ding wieder herausgekrochen.“

Und wie kamen die „neuen“ Blitzübersetzer zu HaD: Durch Empfehlung einer Freundin („reingeschnuppert, Feuer gefangen, werde bleiben“), durch Medienartikel („fand die Idee das ganze Buch mit X-Leuten zu übersetzen einfach super.“), über eine Suchmaschine oder von einem Mitglied eines Literaturforums („Danke noch mal für den Tipp!“). Und keiner versuchte zu mogeln, keine einzige Müll- oder Quatsch-Übersetzungen war auszusortieren.

Besonders für die, bei denen die Fäden zusammenliefen, war der Stress hoch, wenn sie parallel im Blitzübersetzungsforum Anfragen stellten und beantworteten, bis zu 250 Mails bekamen und 150 verschickten, in eingegangenen Texten besonders Zeichensetzungsfehler zu korrigieren hatten, manche sogar noch ein IRC-Fenster offen, um blitzschnell Anfragen lesen oder schreiben zu können, per ICQ für andere "Kapitel-Mugwumps" ansprechbar waren – und dabei noch ihre eigenen Seiten übersetzten und dafür in Wörterbüchern nach dem treffenden Wort suchten.

Die besonderen Vorteile der einzelnen Kommunikationsform zeigten sich deutlich: „Mit Emails bekam ich nur die Mitteilungen, die für mich wichtig waren. Im Forum gehts immer durcheinander.“ – „Aber das schöne am Forum ist, dass man auch eine Stunde aussetzen kann und dann nachliest was wichtig erscheint.“ Mit diesem Mix von synchronen und asynchronen Kommunikationsmedien klappte die Zusammenarbeit der virtuellen Kapitel-Teams über alle Zeitzonen hinweg: Eine Teilnehmerin nahm von Tokyo aus teil, wo sie sich als Gastschülerin aufhielt; eine andere, eine zweifache Mutter, saß gerade in Mexiko.

Auswertung und Ausblick

Die Gefahr durchzudrehen bestand besonders dann, wenn Übersetzer mitteilten, sie wollten sich nicht „spoilern“ lassen und müssten erst mal schnell das ganze Buch bis zu ihren Seiten durchgelesen haben, bevor sie übersetzen könnten – um dann aber in letzter Minute mit einer Superübersetzung zu glänzen. Auch das Begriffeteam geriet gegen Ende stark unter Druck, da ihm neue Begriffe oft erst am Sonntag Nachmittag gemeldet wurden. Aber es war „ein angenehmer Stress: an ’zig Sachen gleichzeitig zu arbeiten und immer schnell zu reagieren – cool“. „Und es machte Spaß, wenn ich selbst im Stress war, eine Rechercheaufgabe delegieren zu können – und es klappte.“

Unter dem Gesichtspunkt der Organisationsentwicklung gesehen schweißt so etwas zusammen: „Ich fand es große Klasse, wie nicht nur das Teamwork unter uns alten Hasen geklappt hat – wir sind ja fast schon eine Familie – sondern wieviele der „Neuen“ sich engagiert haben!!!“ So wichtig das Engagement der „Alten“ für die inhaltliche und EDV-technische Vorbereitung war („Ich bin völlig fasziniert von der Organisation, die schon im Vorfeld abgelaufen ist und wie gut alles durchdacht war.“), so gut war die Qualität der Übersetzungen der letzten Kapitel, in denen fast nur "Neulinge" dabei waren: „Eine wirklich gute Übersetzung habe ich von einer 14-jährigen Schülerin erhalten.“

Bei so viel Überschwang wurde auch schon über die „BÜ-HP7“ spekuliert, eine Blitzübersetzung des nächsten und letzten Harry Potter-Bandes-Bandes. Bis dahin ist geplant ein "Status-Tool" zu programmieren, das den Bearbeitungsstand der einzelnen Kapitel detailliert und zeitnah anzeigt. Durch noch bessere Vorbereitung, bessere Einstimmung der „Neuen“ und schnellere Weiterleitung unzureichender Übersetzungen an Ersatzübersetzer soll mehr Luft geschaffen werden für gründlicheres Lektorieren. Andererseits könnte man „sogar eine 8 Stunden Übersetzung schaffen ... Der Plan ist gut für einen Rekordversuch, aber wo bleibt dabei der Spaß? Wollen wir das wirklich? Ich glaube nein! Das Projekt hier war doch viiiiel lustiger!“

Blitzübersetzung abgeschlossen, eigentliche Übersetzung beginnt

In den vier Tagen bis zum Sonntag Abend hat sich die Anzahl der registrierten Benutzer von HaD auf 4.000 mehr als verdoppelt. Seitdem kommen täglich über 600 hinzu. Manche spekulieren in den Foren nur über den Fortgang der Geschichte, diskutieren das Buch oder stellen selbstgeschriebene "FanFiction" vor – aber die meisten wollen ihren neuen Potter selber mit übersetzen und tauschen sich über Übersetzungsfragen aus. Denn die Blitzübersetzung wird in erster Linie als ein verrücktes Experiment angesehen, das in einer Münchner Kneipe bei einem Fantreffen ausgebrütet worden war und nun abgeschlossen ist.

Inzwischen dreht sich in der Community alles darum, dass in den nächsten Wochen jeder, der über grundlegende Englischkenntnisse verfügt, an einer soliden Übersetzung mitwirkt. Anders als bei der Blitzübersetzung, in der viele Entscheidungen in letzter Minute spontan fallen mussten und vieles nicht nachgeprüft werden konnte, wird jetzt in der regulären Übersetzung um jedes treffende Wort gerungen.

Die deutsche Ausgabe des sechsten Harry-Potter-Bandes soll am 1. Oktober 2005 im Carlsen-Verlag erscheinen.