Neugruppierung der Siedlungen und Truppen

Der Anthropologe Jeff Halper über den israelischen Truppenabzug aus dem Gazastreifen und die Chancen des Friedensprozesses

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Mit der Anordnung, große Teile der Siedlungen im Gaza-Streifen aufzugeben, hat der israelische Ministerpräsident die Wut der Siedler auf sich gezogen. Viele von ihnen sehen in der Gründung und Ausdehnung der israelischen Dörfer nicht weniger als eine missionarische Aufgabe. Scharons neue Politik kommt für sie einem Verrat gleich. Doch auch international rief der konservative Politiker und ehemalige Militär mit der Order zum Rückzug aus Gaza Erstaunen hervor. Macht die israelische Regierung nun Ernst mit einer Demilitarisierung der Region?

Telepolis sprach mit Jeff Halper. Der 56jährige Friedensaktivist lebt seit 1973 in Israel, wo er an der Ben-Gurion-Universität Anthropologie lehrt. Halper ist unter anderem Mitbegründer des Komitees zur Rettung der Äthiopischen Juden. Derzeit ist er Koordinator des Israelischen Komitees gegen Hauszerstörungen (ICAHD) .

In den vergangenen Wochen war viel über den Abzug israelischer Truppen aus dem Gazastreifen zu lesen. Ebenso über die Proteste radikaler Siedler, die sich gegen den Rückbau der Außenposten Israels wehren. Ist es nicht ein Sieg der Friedens- und Menschenrechtsbewegung, dass der Abzug gegen diese Gruppen durchgesetzt wurde?

Jeff Halper: Meinen Sie das ernst?

Durchaus. Schließlich wurde Scharon immer nachgesagt, er würde sich gegen rechtsradikale Gruppen unter den Siedlern nicht genügend zur Wehr setzen.

Jeff Halper: Das stimmt, doch es gibt einen Einwand. Grundsätzlich ist natürlich jeder Abzug der israelischen Siedler und der Armee aus den besetzten Gebieten zu begrüßen. Dieser Rückzug steht aber nicht im Kontext eines umfassenderen Friedensprozesses. Er stellt eine unilaterale Handlung dar, die in keinem Fall - auch wenn dieser Eindruck vielleicht entstanden ist - auf eine weitläufigere Demilitarisierung der Region durch Israel schließen lässt. Im Gegenteil: Scharon hat in den vergangenen Wochen sehr deutlich gemacht, dass die israelische Präsenz in der West-Bank auf keinen Fall gemindert wird. Und diesen Trend beobachten wir derzeit: Die israelische Regierung und Militärführung gruppiert sowohl die Siedlungen als auch die Truppen neu, so dass es für sie sehr viel einfacher sein wird, die Westbank zu kontrollieren.

Zugleich wurde aus Armeekreisen verlautbart, einen Schutzstreifen an der Grenze zum Gaza-Streifen zu errichten ...

Jeff Halper: ...was doch deutlich macht, dass der Gaza-Streifen unter israelischer Kontrolle bleibt. Wenn all diese Aktionen von israelischer Seite ein erster Schritt in einem Friedensplan wären, dann könnte man die Hoffnung bewahren und erst einmal abwarten. Die israelische Staatsführung hat aber sehr deutlich gemacht, dass dem nicht so ist. Alle militärischen Begleitmaßnahmen belegen schließlich, dass der Abzug Teil einer verschärften Sicherheitspolitik ist, die - das ist zu befürchten - die sozialen und politischen Ursachen des Konfliktes weiter anheizen wird.

Seitdem an der Grenze zur Westbank von Israel eine Schutzmauer errichtet wurde, halten die internationalen Proteste an. Beklagt werden die Auswirkungen auf die Menschen in den palästinensischen Gebieten: Von dort aus kämen die Menschen nicht mehr zu ihren Arbeitsstellen, Bauern würde der Zugang zu ihren Feldern verwehrt. Droht mit der Errichtung einer Sicherheitszone zum Gaza-Streifen dort die gleiche Entwicklung?

Jeff Halper: Die Auswirkungen werden nicht so groß sein, weil Gaza an sich ohnehin nicht mehr lebensfähig ist. Während der militärischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte hat die israelische Armee die Infrastruktur fast vollständig zerstört. Hunderttausende Menschen verloren dabei ihre Unterkünfte. Danach wurde es ihnen verboten, ihre Häuser neu zu errichten. Im Gaza-Streifen gibt es keinen Flughäfen. Die Trinkwasserversorgung ist bis heute prekär. Durch den Wassermangel ist die Landwirtschaft fast vollständig zerstört. Und die palästinensischen Fischer leiden unter einer Seeblockade der israelischen Marine. Nach dem Osloer Abkommen müsste ihnen eine 12-Meilen-Zone zum Fischen zur Verfügung stehen. De facto können sie gerade einmal eine Meile auf See fahren - das ist deutlich zu wenig, um die Fischbestände zu erreichen. Die Menschen in Gaza leben heute also von internationalen Hilfslieferungen. Deswegen beharren wir vom ICAHD auf einer Grundposition: Nur eine Initiative, die zum einem lebensfähigen palästinensischen Staat führt, ist eine gute Initiative. Der israelische Abzug aus Gaza gehört nicht dazu.

Einer Ihrer Kollegen aus dem ICAHD-Büro in den USA hat Israel vorgeworfen, Nebelkerzen zu werfen. Die Aufmerksamkeit würde auf den Abzug gelenkt, um die Aufrüstung zu vertuschen.

Jeff Halper: Es sind mehr als nur Nebelkerzen. Die israelische Regierung erklärt inzwischen offen, dass in den Friedensprozess keine großen Hoffnungen mehr gesetzt werden sollten. Entsprechende Verlautbarungen sind etwa aus dem Büro des Ministerpräsidenten zu hören. Behalten wir nun diese Haltung im Hinterkopf, fällt eines auf: Gaza ist das einzig verbleibende Gebiet, in dem militärische Konflikte mit palästinensischen Gruppen geführt werden. Wenn dieser Widerstand einmal eliminiert ist, wird Ruhe herrschen - eine Friedhofsruhe. Dann aber ist eines zu befürchten: Wenn keine offenen Auseinandersetzungen mehr stattfinden, könnte auch die internationale Aufmerksamkeit, und damit der Druck für eine politische Lösung des Nahostkonflikts, sinken. Israel könnte den Status quo bis auf Weiteres aufrecht erhalten - trotz der humanitären Katastrophe, die durch die Ausgrenzung der Palästinenser droht.

US-Außenministerin Condoleezza Rice hat während ihres jüngsten Besuches in Israel beide Seiten - Israelis und Palästinenser - erneut zur Zusammenarbeit aufgerufen. Wie beurteilen Sie die derzeitige Nahostpolitik Washingtons?

Jeff Halper: Als völlig widersprüchlich und wenig kohärent. Auf der einen Seite gehören die USA zu den Architekten der Roadmap, dem letzten Friedensplan. Washington wurde von allen Seiten und zu jeder Zeit als Garant für diesen Plan gesehen. Die Roadmap sieht aber nun einmal ein Ende der Besatzung vor. Als es im April 2004 zum Treffen zwischen George W. Bush und Ariel Scharon kam, hat der US-Präsident aber die Fortsetzung der israelischen Siedlungspolitik akzeptiert, indem so genannte "größere Siedlungsblöcke" von dem Rückzug ausgeschlossen wurden. Die US-Regierung nahm damit die fortdauernde Annexion von 20 bis 25 Prozent der Westbank und dem Osten Jerusalems durch Israel in Kauf. Der gesamte Friedensplan war zunichte gemacht.

Sollte die Europäische Union eine stärkere politische Rolle einnehmen?

Jeff Halper: Natürlich sollte sie das. Wenn Sie aber heute mit europäischen Politikern sprechen, rechten oder linken, dann hören Sie immer den gleichen Satz: "Die USA müssen das richten." Das Problem ist, dass sich Europa völlig aus der Verantwortung gezogen hat. Im Nahen Osten findet dadurch eine alleinige US-Inszenierung statt. Und solange die USA die Führung behalten, wird Israel sich durchsetzen.