Die Jagd nach dem Autismus-Gen

Die Hoffnung der Forscher richtet sich auf die Entwicklung eines lukrativen Gentests, aber an der Gen-These sind viele Frage offen

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Seit einiger Zeit nehmen die Bio- und Neurowissenschaften verstärkt Krankheiten mit multifaktoriellen Ursachen ins Visier. Dazu gehören neben Depression und Schizophrenie auch neurologische Erkrankungen wie frühkindlicher Autismus. Für die Ursachen dieser Kommunikationsstörung, die mit innerer Zurückgezogenheit und starker Selbstbezogenheit einhergeht, gibt es trotz umfangreicher Forschungen bislang kein umfassendes Erklärungsmodell.

Vermutlich ist Autismus auf eine Wechselwirkung mehrerer Faktoren zurückzuführen. Dennoch lässt sich aber eine zunehmende Genetifizierung der Krankheit beobachten. Jüngstes Beispiel: Ein Wissenschaftlerteam der deutsch-französischen Firma IntegraGen bedrichtete vor kurzem im Fachmagazin Molecular Psychiatry die Entdeckung eines Gens, das mit Autismus in Zusammenhang stehen soll. Es befinde sich auf Chromosom 16 und enthalte den DNA-Code für das Protein Kinase C beta 1 (PRKCB1), das eine wichtige Rolle bei einer für Autismus entscheidenden Gehirnfunktion spiele. Das Protein wird in den sogenannten Körnerzellen des Zerebellum (Kleinhirn) des Gehirns exprimiert und sorgt dort für die Signalübertragung zu den Purkinje-Zellen. Beide Zelltypen helfen, Botschaften in und aus dem Gehirn weiterzugeben. In den Gehirnen autistischer Menschen sei eine geringere Anzahl von Körner- und Purkinjezellen nachweisbar, schreiben die Forscher. Als Grundlage ihrer Untersuchung dienten den IntegraGen-Wissenschaftlern 116 Familien mit mindestens einem autistischen Angehörigen.

Der Wettlauf um die Identifizierung der genetischen Grundlagen von Autismus

Die Identifizierung von Autismus-Genen wurde in den letzten Jahren allerdings immer wieder gemeldet. Bereits 1999 behaupteten Forscher der Universität von North Carolina im American Journal of Medical Genetics, auf dem Chromosom 13 ein Gen entdeckt zu haben, das Autismus auslösen kann. Auch Chromosom 7 sei verdächtig. Dies hätten Studien an eineiigen Zwillingen gezeigt, behaupteten die Forscher um den Psychiatrieprofessor Joseph Piven damals. Für die Studie wurden Blutproben von 75 Familien mit jeweils zwei autistischen Kindern statistisch verglichen.

Ebenfalls 1999 startete der Kinderpsychiater Fritz Poustka vom Universitätsklinikum Frankfurt am Main ein Kooperationsprojekt verschiedener Kliniken aus Europa und Nordamerika. Poustka vermutete, dass das Chromosom 7 mit Autismus in Zusammenhang steht. Auch die Chromosomen 2, 16 und 15 seien wahrscheinlich an der Entstehung beteiligt. Es wurden 175 Familien mit zwei oder mehr betroffenen Kindern untersucht.

Ein Jahr später entdeckten europäische und US-Forscher auf den Chromosomen 2, 7, 16 und 19 bestimmte Abschnitte, die bei autistischen Kindern besonders häufig vorkommen. Die Studie untersuchte 130 Familien mit je zwei autistischen Kindern. Ziel sei es, bis 2005 "die genetische Beratung im Griff zu haben", sagte der Londoner Arzt Anthon Bailey, Leiter des Forschungszusammenschlusses damals.

Zuletzt hatten US-Mediziner im April 2004 im American Journal of Psychiatry behauptet, eine Verbindung zwischen einem erhöhten Risiko für Autismus und verschiedenen Genvarianten auf Chromosom 2 herstellen zu können. Erst wenn alle fünf bis zehn verantwortlichen Gene identifiziert seien, wäre aber eine verlässliche Prognose möglich, betonte Joseph Buxbaum von der Mount Sinai School of Medicine in New York. Bereits in früheren Untersuchungen behaupteten Buxbaum und seine Kollegen, dass mindestens eines dieser Gene auf Chromosom 2 zu finden sei. Es steuere eine verstärkte Produktion des Proteins ACG1, das die Energieversorgung der Nervenzellen autistischer Menschen beeinträchtige.

Der Umstand, dass Autismus stark geschlechtsspezifisch geprägt ist, bleibt gegenüber dieser Gen-Fokussierung bisher weitgehend unerforscht. Eines von 2.500 neugeborenen Kindern in der EU gilt nach Angaben des Gen-ethischen Informationsdienstes (GID) als autistisch. Auffällig ist dabei, dass zu fast zwei Dritteln Jungen betroffen sind. Allerdings weist der schwedische Kinderpsychiater Christopher Gillberg laut Süddeutscher Zeitung vom 21. Juli 2005 darauf hin, dass dieses Ungleichgewicht auch durch eine selektive Wahrnehmung seitens der Wissenschaftler zustande kommen könnte: Es sei etwa denkbar, dass Mediziner sozialen Rückzug und Passivität bei Mädchen nicht so schnell als krankhaft bewerten würden.

Die Patentierung von Autismus-Genen

Der Wettlauf um die Identifizierung der genetischen Grundlagen von Autismus speist sich vor allem aus der Hoffnung, einen lukrativen Gentest entwickeln zu können. Das Unternehmen IntegraGen hat in den vergangenen zwei Jahren bereits fünf US-Patente auf Autismus-Gene und deren gewerbliche Nutzung erteilt bekommen. Sechs weitere Patente wurden in diesem Jahr beantragt. Sie sind aber noch nicht erteilt. Auf Grundlage dieser Patente plant IntegraGen, bis 2006 einen Gentest für Autismus auf den Markt zu bringen. Der Test wird das Vorhandensein des Proteins PRKCB1 und der vier Gene testen, die mit Autismus in Verbindung gebracht werden. Bei einem Kind soll der Test bereits im Alter von 18 Monaten ein erhöhtes Risiko für Autismus feststellen können, hofft Jörg Hager, Chief Scientific Officer bei IntegraGen.

Ins Bild der genetisch bedingten Autismus-Erkrankung passt allerdings nicht, dass viele betroffene Kinder ohne Symptome geboren werden und die Krankheit erst entwickeln, nachdem sie zwei Jahre alt geworden sind. Die Gen-Hypothese erklärt auch nicht den drastischen Anstieg der Autismus-Fälle während der vergangenen 15 Jahre in den USA. In einer Studie des Weidler-Verlags schreibt die Verhaltenstherapeutin Claire Molnár, die Identifizierung eines Autismus-Gens bleibe schon deshalb "ein zweifelhaftes Vorhaben", da sich "ein Gen nicht eindeutig einem Merkmal zuordnen" lasse.

Zum Schluss erinnert dieser aktuelle Fall auch daran, dass die rot-grüne Bundesregierung eigentlich ein Gendiagnostikgesetz verabschieden wollte, das noch in diesem Jahr in Kraft treten sollte. Der Entwurf sah unter anderem vor, die Nutzung medizinischer Gentests durch Arbeitgeber und Versicherungen einzuschränken. Die endgültige Fassung scheiterte im November 2004 an Bundesinnenminister Otto Schily (SPD), der Beamte, Richter und Soldaten nicht vor einem Zugriff schützen wollte, wie es die Grünen forderten. Diese Berufsgruppen hätten vor Einstellung oder Verbeamtung gezwungen werden können, einen Gentest vorzulegen.