25 Jahre Mas Hysteria

Eine Rock-Karriere im Abseits

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An einem relativ sonnigen Tag in den frühen Achtzigerjahren begegnete ich, draußen vor dem alten Bibliotheksgebäude der Stadtbücherei von Wellington, Neuseeland, einem alten Bekannten namens Norm. Er arbeitete in der Bibliothek als Forschungsassistent für irgendwelche Projekte. An diesem Tag erzählte er mir voller Begeisterung, er habe soeben in Maclean's, einem kanadischen Magazin, einen Artikel über einen Sänger gefunden, der ziemlich unbekannt sei, den er selber aber sehr schätze.

"Ach wirklich?", sagte ich und dachte bei mir selber: Er meint sicher diesen Bruce Cockburn, Canada's heimlichen Superstar. "Wie heißt er denn?", fragte ich.

"Bruce Springsteen", sagte er.

"Bruce Springsteen?!" fragte ich zurück. "Bist du sicher? Du meinst nicht zufällig Bruce Cockburn?"

"Nein, im Ernst. So heißt er. Spring und steen. Springsteen."

"Du kannst mir doch nicht erzählen, du hättest soeben erst Bruce Springsteen entdeckt! Der war doch 1975 schon auf dem Cover von "Time" und "Newsweek", in der selben Woche, gleichzeitig -- und seine erste Platte ist, was weiß ich, vor zehn Jahren erschienen. Der müsste dir doch längst schon mal untergekommen sein!"

Aber nein. Norm meinte allen Ernstes, er hätte soeben Bruce Springsteen, einen ganz neuen, unbekannten Sänger, entdeckt.

Zigarette, Turnschuhe, Lederjacke, Hotpants, Mutti-Frisur und die Bremener Flagge auf der Gitarre: der totale Image-Salat

Komischerweise hatte ich ein oder zwei Jahre zuvor selber ein ähnliches Erlebnis gehabt. Nur ging es bei mir nicht um Bruce Springsteen sondern sozusagen um Bruce Springsteens Schwester. Zufällig waren drei Schallplatten dieser Frau nach Neuseeland geschippert worden, vermutlich als Promotion-Material für irgendeinen Hiwi in der Musikindustrie.Der entsorgte sie - ohne lange hinzuhören -- für bare Münze bei Silvio's Secondhand Schallplatten-Emporium. Der Anlaufstelle für alle Vinyl-Junkies in der Stadt. Und damit war die Promotion für Neuseeland bis auf weiteres erst mal gelaufen.

Heute, Jahre später, und selber um den halben Globus verrutscht, nach Wien, bin ich dieser "Schwester" vom Bruce wieder begegnet. Nicht in echt, nur auf einem Tonträger. Aber das kuriose daran. Sie ist noch immer völlig unbekannt.

Natürlich ist Carolyne Mas (so heißt sie) nicht wirklich mit unserm Bruce verwandt. Verwandt sind höchstens die Brüder Landau - Jon, einst Producer bei Bruce, David, Gitarrist bei Mas. Die Verwandtschaft besteht aber doch zumindest musikalisch - auch in dem Sinne, dass besonders die Live-Aufnahmen beider Künstler eine ganz bestimmte Qualität besitzen, die Härte des wirklich guten Rock, bei dem es nie einen Moment der Ermüdung gibt, so dass man ihre Platten durch Jahre hindurch ein ums andere mal hören kann, ohne sich jemals zu langweilen.

Welches Bruce Springsteens beste Platte ist, will ich hier nicht versuchen zu klären. Eine der besten aber, nach meinem Dafürhalten, heißt "Streets of Life", eine Konzertaufnahme aus dem Jahr 1975, aufgenommen im Roxy Theater in Los Angeles. Vielleicht auch 1976 in Philadelphia. Die Experten sind sich darüber nicht einig. Jedenfalls aber: ein wunderbar lockerer Live-Set, 80 Minuten, die man nie überkriegt. Eine perfekte Platte mit einem perfekten Titel. Zu Carolyne Mas bester Live-Platte fiel den Werbefachleuten ihrer Firma -- als Titel - nur "Mas Hysteria" ein. Massenhysterie. Eine Frau, die selber frenetisch die Stromgitarre schwingt und dazu ungehemmt ins Mikro kreischt, wimmert, droht, spricht, flüstert, schreit, singt! -- und immer wieder total abhebt - die konnte ja nur hysterisch sein. Und irgendwie musste man diesen winzigen spanischen Namen - Mas (Mehr) - doch schließlich unters Volk bringen.

Diese erste Live-LP, die Aufnahme eines Radio-Konzerts in ihrem New Yorker Heimatdistrikt, Long Island, Mitte Juli 1980, war ursprünglich ein reines Wegwerf-Produkt. Ein Appetithäppchen für Disc-Jockeys und sonstige Mitmischer im Musik-Business. Mit sechs Songs und 35 Minuten eher kurz, dazu nur mit einem fast fotokopiert wirkenden, undeutlichen Schwarzweißfoto auf dem Cover, der den Reiz des Verbotenen (Stichwort: Bootleg) hochkitzelte, brachte es gerade diese Platte völlig unerwartet auf Verkaufszahlen von einer Viertelmillion --- in Deutschland. Es bleibt bis heute die einzige Carolyne Mas-CD, die noch regulär auf dem Markt zu haben ist. Die scheinbare Bootleg war zwar auch damals schon legal, Geld sieht Carolyne Mas davon aber keines mehr, ebenso wenig wie von allem anderen, was sie aufgenommen hat. (Zu haben sind ihre Scheiben allerdings immer noch, zu unterschiedlichen Liebhaber-Preisen und bei verschiedenen Internet-Anbietern.) Auch eine zweite, Anfang der Neunzigerjahre in Deutschland aufgenommene, Platte, eine fast 90minütige Live-Doppel-CD, brachte ihr finanziell keine Freude. Klanglich aufgebessert findet sich die Hälfte dieses Konzerts auf einer Kompilation, "Stay True."

Aber trotzdem ist der Stiefel damit bei mir am andern Fuß gelandet. Denn statt wie einst den guten Norm zu belächeln, verdiene nun vermutlich ich selber die Belächelung, wenn ich sage, dass diese dreieinhalb Live-CDs von Carolyne Mas bruchlos neben den beiden CDs von Bruce Springsteen stehen und bestehen können. Sie bieten Rock vom Feinsten, in jeder Sekunde lebendig, erfüllt von unbändiger Energie und Musikalität.

Aber warum ist dann Carolyne Mas so vollkommen unbekannt? Tatsache ist, auch von Bruce Springsteen hätte bis heute noch kein Mensch etwas gehört, wenn sein Ruhm von "Streets of Life" alleine abhinge. Denn diese schöne Konzertaufnahme erhält der Musikliebhaber bestenfalls auf nicht völlig legalem Wege, übers Internet. Dem Großen Bruce kann es mittlerweile egal sein. Nicht einmal "Time" und "Newsweek" hatten seine Karriere beflügeln können. Aber nach fünf erfolglosen Jahren schaffte er 1978 endlich den Sprung in die Liga der musikalischen Superhelden. Und Tschüss.

Im Fall von Carolyn Mas hingegen, die ihren Einstieg in die Welt des Rock mit zwei perfekten 5-Sterne-Alben begann, "Carolyne Mas" (1979) und "Hold On" (1980) und einem kaum schwächeren dritten Album, "Modern Dreams", (1981) alle auf dem Mercury-Label, ging die Sache von Anfang an in die Binsen. Es zeigte sich nämlich, dass offenbar weder sie selbst noch ihre Plattenfirma eine klare Vorstellung davon hatten, welches Image sie für ihr junges Talent wählen sollten. Vergleichbare Sängerinnen aus der gleichen Ära - Debbie Harry bei Blondie, Chrissie Hynde von den Pretenders, Holly Beth Vincent mit den Italians, Helen Schneider & the Kick - etablierten sich rasch als aufregende Rock-Stimmen, die ebenso fetzig dahin röhren wie verführerisch weich klingen konnten, mit einem Sex-Appeal, der sowohl männliche wie weibliche Hörer ansprach.

Und hier war Carolyne Mas, wie ein Kritiker schrieb, "die beste weibliche Rock-Stimme seit Grace Slick," auf ihrer ersten LP und den dazugehörigen Videos oben mit Zylinder (!) und Frackhemd, unten mit Turnschuhen zu sehen, ein Image, das damals wohl als erstes an Liza Minelli oder an Joel Grey, den Master of Ceremonies aus dem Film "Cabaret" erinnerte. Und als zweites an bestimmte transgenderartige Geschlechtsrollen-Übergangsbereiche. Womit sie die Zuordnung weg hatte, die ihr teilweise bis heute noch anhaftet. Kategorie: "Lesben-Rock."

Irrtümlicherweise, wie einem spätestens nach dem zweiten Hinhören klar wird, denn niemand singt eindringlicher als sie über Liebe und Hass und die sonstigen Verwirrungen in heterosexuellen Beziehungen. Immerhin gibt es "Laurielle" bei ihr, eine elegische Absage an eine lesbische Freundin. Doch sei es wie es sei. Anders als bei tatsächlich lesbischen Künstlerinnen, wie der stets kleingeschriebenen k. d. lang oder Melissa Etheridge, wirkte sich die Quasi-Zuordnung zum Lesben-Rock bei Carolyne Mas weniger verkaufsfördernd als verkaufshemmend aus. Der Versuch, das Steuer herumzureißen und endlich, auf dem Cover der dritten LP, dieser Spanish-American lady eine Art modisches Sandinista-Outfit zu verpassen, konnte dann eigentlich nur noch richtig in die Hose gehen.

Der einzige, der "Modern Dreams" bisher wirklich zu schätzen wusste, war Stefan Raab. Auf der Suche nach Fremdinspiration für seine Eurovisions-Teilnehmer "Alex" (Künstlername: Alicia MAS) und Mutzke, MAX, blieb sein Daumen offenbar wie von selbst bei MAS, Carolyne stehen. "What Is It About You Baby?", heißt der Track 8 auf der Platte, der dann mutatis mutandis als "Can't Wait Until Tonight" beim Song Contest 2004 ebenfalls bloß den 8. Platz erreichte, auf den deutschen Charts allerdings Platz 1. Womit das im Music-Business übliche Kavaliersdelikt eher als Fuhrkutscherdelikt gelten darf, als musikalische Fahrerflucht. Wäre Raab ein Kavalier, würde er Mas und Max wenigstens nachträglich einen gemeinsamen Gastauftritt bei TV TOTAL mit seiner ausgezeichneten Hausband gewähren.

Wie wichtig das Image für die Karriere in der Pop-Musik ist veranschaulicht der Fall Laura Nyro. Eine New Yorkerin wie Mas, aber italienisch-jüdischer Abstammung, deren manchmal recht abstrakte Songs eher schwer zugänglich sind, punktete sie letzten Endes durch eine Art Ikonographie des weiblichen Leidens, die zu fraulicher Identifikation aufrief, und die auf fast jedem Platten-Cover konsistent durchgehalten wurde. Da schadete es dann nicht einmal mehr sonderlich, dass Nyros Plattenfirma ihr bestes Live-Album (Season of Lights, 1977, eine Doppel-LP) auf Nimmerwiedersehen (oder immerhin auf 20 Jahre, die japanische CD-Version erschien erst 1997) einfach verschlampte. Natürlich schadete es auch nicht, dass Laura Nyro tatsächlich ein paar Hits zu verzeichnen hatte. Heute ist sie jedenfalls, wenngleich erst posthum, eine Pop Queen, die von einer internationalen Fan-Gemeinde verehrt wird.

Das richtige Image ist eben das ein und alles in der Pop-Welt. Patti Smith, die nie einen Hit hatte, ist selber ein Hit. Weil sie durchgängig an einem bestimmte Image, als zottelige Rock-Poetin, festgehalten hat, selbst wenn sie privat einmal ein paar Jahre Abschied von der Rolle nahm. David Bowie, der in seiner Musik verschiedene Dinge ausprobiert, braucht wenigstens das Image eines Pop-Chamäleons. Man stelle sich vor, die Rolling Stones wären auf ihren ersten Platten als pfeiferauchende Strickjackenträger abgebildet gewesen, die Sex Pistols als biedere Bürger hinterm Bankschalter, die New York Dolls mit Krawatte und Anzug, KISS unbemalt!

Sie haben es übrigens versucht. KISS ohne Make-up. David Johansen mit Krawatte und Anzug. Das falsch gesetzte Image, die fehlende Selbst-Inszenierung, sind der Tod der Karriere. Bei Carolyne Mas ist dies nirgends deutlicher zu erkennen als in einem an sich wunderschönen Live-Set - zu sehen in der schon etwas schlierendurchsetzten Video-Aufzeichnung eines 90-minütigen Hamburger Rock-Palast Auftritts aus dem Jahr 81. Zwar wird sie hier als gitarrenschwingendes Energiebündel auf der Bühne präsentiert, aber auch, im Vergleich beispielsweise zu Auftritten von Britney bis Shakira, wie wir sie heute kennen, nicht als unterleibsmäßig dominanter Star, sondern in erster Linie als arbeitende Musikerin, als Teil und Mitglied und Leiterin ihrer Band.

Erst wenn man die Aufnahme beispielsweise aus dem Nebenzimmer hört oder die DVD als reine Tonaufnahme im Computer abspielt, ohne das Bild, bemerkt man, wie ausgefeilt, wie fehlerfrei, wie kalkuliert und gut gemacht diese Musik eigentlich ist. Die Springsteen-Elemente sind klar auszumachen, das Saxophon, die E-Gitarren, aber auch - gerade damals, in dieser Zeit des Post-Punk und Post-Disco, der verwaschenen Synthesizer-Klänge - eine tiefe Verbundenheit mit dem gitarrenlastigen Doo-wah-diddy-Rock der Mitt-Sechzigerjahre, ein kreativer Umgang mit Zitaten aus der Pop-Geschichte, und vor allem die unbändige Lust, auf hohem musikalischen Niveau die Sau rauszulassen. Diese Stimme kennt keine Gnade. Nicht mal Tina Turner oder Joan Jett rockt so ausdauernd & so hart wie Carolyne Mas.

Doch selbst in Deutschland, wo man sie etwas sehr einseitig als Rock-Röhre schätzte, (ihr einziger Hit im Lande, "Sittin' in the Dark" musste bei Live-Auftritten auf bis zu 18 Minuten gedehnt werden, um das Publikum zufrieden zu stellen) - erschienen ihre Platten mit den langweiligsten Cover-Illustrationen. Die Platten selber - "Action Pact", ein Sammelsurium, von Blues bis Country und Oldie-Rock, und einer handvoll wirklich guter Songs - und "Reason Street", eine durchwachsene Sache, mit wenigstens einer der zehn besten Singles, die ich überhaupt kenne ("Reconsider My Love") - überzeugten, jenseits ihrer etwas konfusen production values, rein zufällig, durch ihre Musikalität.

Nur: Wie konnte eine so energiegeladene Performerin ein derart statisches, blödes, ödes, langweiliges Image verpasst bekommen? Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass Carolyne Mas eine Frau mit Humor ist. Humor, wie schon Frank Zappa bemerken musste, hat in der Pop-Musik nichts verloren. Jim Morrison brachte es bei zwei Stunden gefilmten Live Auftritten gerade mal auf zwei Sekunden eines Anflugs eines Lächelns. Bob Dylan präsentiert seine Weisheiten mit melancholischem Ernst, Mick Jagger hält das für wichtig, was er vorbringt, und auch der Große Bruce ist vollernst bei der Sache. Carolyne Mas schien bei ihren Auftritten immer auch Spaß zu haben. Ein Fehler. Und sie biederte sich nicht an. Das war wohl noch ein Fehler.

So steht sie heute, mehr als 25 Jahre nach Beginn ihrer Karriere, immer noch ganz am Anfang. Ihr Fan-Club in Amerika (eine private Ein-Mann-Initiative) hat ihre ersten drei CDs, für die sich heute kein Verleih mehr findet, und eine DVD mit Live-Mitschnitten als Liebhaber-Ausgabe herausgebracht. Außerdem einen wirklich wunderschönen Überblick über ihre Karriere, mit einigen unveröffentlichten Demo-Aufnahmen neueren Datums, unter dem Titel "Beyond Mercury". Eine letzte, 1999 professionell im Studio produzierte Platte, hat Carolyne Mas unterdessen selber veröffentlicht, indem sie dafür eine Hypothek auf ihr Haus aufnahm. Die Scheibe heißt: "Brand New World". Auf dem Cover ist ein Photo ihres jungen Sohnes zu sehen, der mit großen, wachen Augen in die Kamera blickt. Das Ganze ist eine erstaunlich unverkrampfte Angelegenheit geworden. Der schönste Song darauf heißt "Escuchame", eine angenehm relaxte Nummer, und der erste spanische Titel in ihrem Repertoire. Die Übersetzung lautet: "Hör mir zu." Vielleicht tut es ja jemand...

Carolyne Mas CDs: Außer "Mas Hysteria" (SPV 076-44542 CD) nur erhältlich in Secondhand-Läden, und per Internet bei amazon.de bzw www.cdbaby.com"Brand New World" bei www.carolynemas.com.