Sphären-Politik

U2 zelebrierten im Münchner Olympiastadion ihr letztes Deutschlandkonzert als Heilige Messe für die Wohlfühlmassen

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Gigantisch und überdimensioniert allein schon die Bühne mit ihren zwei Laufstegen, die Pixelleinwand im Hintergrund, eingerahmt von rotschwarz gestreiften Lautsprechertürmen mit vier gewaltigen Videoscreens oben auf. Desgleichen auch die Technik, die Scheinwerfer, die Logistik und überhaupt das Equipment, das U2, die derzeit größte „Rock'n'Roll Band“ der Welt, bei ihrem dritten und letzten Deutschlandkonzert im Münchner Olympiastadion verbrauchten; steril und größtenteils langweilig dagegen die Performance, die Posen und die Musik, die die Band den über 70 000 Hörern im weiten Rund der Arena boten.

Gemeinsam existieren die Blase und ihre Bläser in einem Feld, das durch aufmerksame Anteilnahme aufgespannt wird.

Peter Sloterdijk, Sphären I: Blasen

Musikalisch bot die Band einen Kessel Buntes aus ihrer mittlerweile über 25-jährigen Geschichte, Songs aus den 1980ern wie „I still haven't found…“ oder „In the Name of Love“, Kuschelrock-Ohrwürmer wie „One“ oder „With or without you“, aber auch etliche Titel von ihrer jüngsten, durchaus respektablen „Dismantle“-CD, die von Kritikern zu Unrecht herb gescholten wird (Eher bekloppt als schlau).

Überraschend war vielleicht, dass sie nach langer Zeit auch mal wieder ihren Klassiker „Sunday, Bloody Sunday“ darboten, der folglich auch gleich frenetisch von den Leuten mitgegrölt wurde. Zumal der Inhalt des Songs (und nicht nur der) sich hervorragend für ein gutgläubiges Publikum eignet, das in den letzten Wochen und Monaten ständig zwischen Live-8 und Neuwahlen, Rucksackbombern und Hartz IV hin- und her zappen konnte, das bald zu Linkspartei, Rotgrün oder Gelbschwarz eine Haltung einnehmen soll und korrekter Weise auf Gutmenschenprosa und politisch entsprechende Semantiken wohlwollend und sensibel reagiert.

Von dem Zorn und der Wut, die den Song einst prägten, vom Aufruhr und der positiven Unruhe, von denen er kündet und die er vermittelt, ist nach über zwanzig Jahren außer hehren Sprüchen von der Sorte: „We hope we won't become a monster to fight the monster“ und leeren Worthülsen von der Art: „Keiner darf mehr wegschauen“ nichts mehr übrig geblieben. An ihre Stelle sind mittlerweile Betroffenheitsgesten, Absichtserklärungen und das Sammeln von SMS-Botschaften getreten, die an bestimmte Spendennummern versandt werden und den Absendern ein gutes Gewissen und Ruhekissen verschaffen sollen – eine neue Unart, die auch schon beim jüngsten Coldplay-Konzert zu beobachten war. Aus Dank für soviel politisches Engagement wurden am Ende des Konzerts dann auch die Namen derjenigen auf der Pixelleinwand per Laufband ausgelobt, die dem Aufruf der Band gefolgt waren und das Kennwort „Afrika“ in ihr Handy eingetippt hatten.

Musikalisches Polittheater

Ansonsten stießen vor allem die platten Psycholehren: „Sometimes you can make it on your own“, die dämlichen Politgrußbotschaften: Love & Peace, Schuldenerlass für Afrika, billige Medikamente für Entwicklungsländer, sowie die selten kitschigen Bilder: Umrisse Afrikas, an denen die Flaggen der Nationen der Erde vorbeiflossen, unangenehm auf, die Bono, von der Natur mit erstaunlicher Sangeskraft ausgestattet, mit der Band verbreitete und mit viel doktrinärem Gehabe und charismatischen Gesten unters Volk streute.

Nein, das war kein Popkonzert mehr, das war auch keine politische Demonstration oder Show-Veranstaltung, das war eine heilige Messe, die Bono I. mit ständig wechselnden Jacken und bebrillten dunklen Gläsern als oberster Priester, Vorsteher und Friedensapostel auf der Bühne (oder sollte man sagen Altar?) zelebrierte. Papst Benedikt XVI., wäre er denn für derlei Musik empfänglich, hätte daran seine wahre Freude gehabt. Wäre der Sound nicht gewesen, so hätte man durchaus meinen können, sich auf einen Weltkirchentag verirrt zu haben.

Der geballte Widerspruch, den satte Leute wie er oder auch Teile des Publikums leben, die sich im Wohlfahrts- bzw. Wohlfühlstaat prächtig eingerichtet haben, von ihrem Besitzstand zehren oder davon möglichst wenig hergeben wollen, fiel weder ihm noch den zum Politpotpourri des Dubliners begeistert schunkelnden Leuten auf. Willenlos wie einst im Berliner Sportpalast, dabei den dargebotenen Konsumartikeln, T-Shirts, Popcorn, Caiphirinia usw. reichlichst zusprechend, feierten sie auch noch die dürftigsten Politsprüche, die der Sänger mit großer Ernsthaftigkeit unter dem tosenden Jubel der Leute absonderte oder die die kristallklaren Videoscreens abstrahlten.

Würde der Forderung Bonos, dass niemand im 21. Jahrhundert mehr an Hunger, Armut oder Elend in der Welt sterben dürfe, nämlich Genüge getan, würde die Erde bald in ein neues Dilemma stürzen. Sie würde dann halt an Überbevölkerung zugrunde gehen. Und würden zum Beispiel die Regeln des „fair trade“ tatsächlich in der Alten und Neuen Welt eingeführt, dann wären Stadionkonzerte wie das von U2 gar nicht mehr möglich. Das Publikum könnte die horrenden Preise, die längst fürstliche Ausmaße angenommen haben, gar nicht bezahlen. Bono und Co. müssten sich schleunigst andere Plattformen für ihr absurdes Polittheater suchen.

Der erhebendste Augenblick war vielleicht, als die Scheinwerfer im Stadion erloschen, die Band im schwarzen Van mit abgedunkelten Scheiben neben der Bühne vorfuhr, die Apparate der Fotografen und des Hoffotografen Anton Corbijn aufblitzten und dazu das wunderbare „Wake up“ der kanadischen Band The Arcade Fire vom Band erscholl. Eine Atmosphäre ähnlich der, wenn der oberste Priester gottgleich am Sonnwendtag die mexikanische Pyramide in Chizen Itza herabzusteigen pflegte, die Gläubigen vor Ehrfurcht erstarrten und sie durch sein Auftreten in Angst und Schrecken versetzte, brach sich Bann. Für einen kurzen, aber höchst intensiven Moment blinzelte oder blitzte urplötzlich (Benjamin und Bohrer lassen grüßen) die Zeit des Neuen ins altehrwürdige Rund des Olympiastadions. Die Kanadier, nicht das neue Priestertum, das U2 favorisieren, könnte die Zukunft des Rock sein, durchfuhr es uns augenblicklich. Der hymnische Chor, die dazu flirrenden Gitarren und ihr elegisch-erhabener Sound, der schwer in der Seele herumwühlt, würden jetzt den passenden Klangteppich zu diesem gigantischen Rahmen liefern.

Jedes Subjekt geht, solange es der Entmutigung widersteht, auf seine aktuelle Vertonung hin […] So stellt sich heraus, dass Menschen nicht wie Gott, sondern wie ein Schlager werden wollen.

Peter Sloterdijk, Sphären I, Blasen

Jetset-Politik

Was danach folgte, war mehr oder weniger großer Kitsch. Vor allem als sich Bono ein weißes Stirnband mit der Wortfolge „COEXIST“ und den Symbolen der drei Weltreligionen umband (ein T-Shirt mit demselben Aufdruck wurde ihm von einem vorauseilenden Zuhörer schon entgegengehalten) und damit für mehr Toleranz und Respekt zwischen den drei Weltreligionen warb. Oder als er zu den Klängen von „Miss Sarajevo“ an alle Opfer des Terrors erinnerte, um Vergebung für alle Sünden dieser Welt bat und auf einmal zig Tausende weiße Luftballons (Tauben standen offensichtlich nicht zur Verfügung) im Stadion auftauchten, die vom Publikum enthusiastisch hin und her geschwenkt wurden.

Und es war vor allem bewährte und routinierte Performance einer musikalisch stagnierenden Band, deren Mitglieder in die Jahre gekommen sind, es sich im Polit-Jetset der Menschenrechtstümler bequem gemacht haben, in ihrer Freizeit oder nebenbei den „Davos-Man“ mimen und ansonsten vorwiegend den Annehmlichkeiten des guten Lebens frönen. Während Trommler Larry Mullen auch als Klon von David Beckham oder dem jugendlichen George W. Bush durchgegangen wäre, erschien der Basszupfer Adam Clayton als ein von einem Schönheitschirurgen soeben von allen Falten befreiter Billy Idol. Nur Edge, der Gitarrenspieler und mit Zipfelmütze bewaffnet wie eh und je, machte den Anschein, als ob er mit all dem längst abgeschlossen hätte und sich bereits ins Posthistoire verdrückt hätte, wo laut Hegel der Sonntagsspaziergang zum ständigen Lebensinhalt wird, so unverändert sah er aus.

Nichts hätte diesen Gesamteindruck, den die Band machte, besser umrahmen können als die Tatsache, dass sich viele Promis in den VIP-Bereich eingefunden hatten, wie die Süddeutsche sogleich zu berichten wusste (Der Friede sei mit euch); und dass das Konzert mit „Vertigo“ begann und nach über zwei Stunden mit „Vertigo“ auch wieder endete. Soviel Einfallsreichtum war noch nie.

Es kommt nicht von ungefähr, dass sich Bono mittlerweile in der Rolle des Messias gefällt und die Band sich die Rettung der Welt auf ihre Fahnen geschrieben hat. Was ihn dazu motiviert hat, diese vakante Rolle zu füllen und für jede Minderheit auf diesem Planeten, für Legehühner, Robbenbabys oder irgendwelchen Stammeskulturen in Afrika, Alaska oder sonstwo, Partei zu ergreifen und Zuneigung zu entwickeln, weiß man nicht so genau; und wer ihn zu dieser Weltanschauungsprosa gebracht hat, auch nicht. Vermutlich ist irgendein Schlauberger, als in der Postmoderne Ende der 1980er urplötzlich ein Gerangel der Unternehmen und Organisationen um Zeichen, Bilder und Markennamen entbrannte, irgendwann mal auf die Sphären-Politik gestoßen und hat gemeint, dass sich das für die Iren, ihr Image und ihren Ruhm, aber auch für ihre Bankkonten günstig auswirken könnte. Im Laufe der Zeit ist daraus nicht nur ein Selbstläufer geworden, der ständig nach neuen Andockstellen sucht. Die Band, und allen voran ihr Anführer, hat offenbar zunehmend auch Gefallen daran gewonnen, sodass Bono mittlerweile auch das noch wirklich glaubt, was er da in die Mikrofone labert.

Denn Ernsthaftigkeit und „gute Absichten“ sind ihm trotz aller kindlichen Penetranz, die er dabei an den Tag legt, nicht abzusprechen. Aber so dick aufzutragen, wie er dies inzwischen tut, ist des politromantischen Überschwangs denn doch zuviel. Vor die UN zu treten und dort, armiert mit seiner Soft Power etwas zu bewegen, ist das eine. Sie ist für Grußbotschaften sicher der passendere Ort. Ein Rockkonzert ist aber das andere. Hier haben launige oder wohlfeile Politsprüche nichts verloren; hier will und muss gerockt werden, auf Teufel komm raus; hier geht es, frei nach Georges Bataille, um Selbstvergeudung, Selbstverlust und Selbstverschwendung. Da loben wir uns die Rüpel von Oasis. Auch wenn es schon mal vorkommt, dass deren Konzert wegen irgendwelcher Alkoholexzesse, Unlust oder Unpässlichkeit von Liam oder wüsten Schlägereien, die sie sich mit Hotelgästen liefern, mal abgesagt werden und man folglich erneut anreisen muss, so bleiben sie doch in all ihrem Tun dem Image einer Rockband eher verhaftet als dem einer „Heilsarmee“.

Immerhin hat dieses Sendungsbewusstsein, das Bono wie kein zweiter verkörpert, auch dazu geführt, dass er von Übereifrigen bereits zum Nachfolger Kofi Annans hochgejazzt wird. Auf der Strecke muss dabei logischerweise das Kerngeschäft bleiben. Dass seine Konzerte „aalglatt“ verlaufen und ohne „rockigen Esprit“ rüberkommen, verwundert daher nicht. Vom wild stampfenden und dröhnenden Rock der 1980er Jahre, der von Bass und Schlagzeug vorangetrieben wurde, ist nichts mehr geblieben. Viel Bombast, Polittheater und eitle Aufgeblasenheit halt, aber wenig Fleisch und Fisch: insgesamt. Postmoderne pur sozusagen.

Wer wollte, der konnte unten auf der riesigen Bühnenlandschaft das Dreigestirn „Kohl, Schröder, Fischer“ in einer Person namens Bono vereinigt sehen, Wiedergänger einer vergangenen, aber eben auch verlorenen Zeit, im doppelten Sinn des Wortes. Dass Bono dem samt Lebensabschnittsgefährtin erschienenen Wahlkämpfer und deutschen Noch-Außenminister während des Konzerts auch noch für sein Afrika-Engagement gegen Armut und Hunger mächtig lobte, Kanzler Schröder, mit dem er in Gleneagles ein halbstündiges Gespräch führte, für überaus toll fand, und die Leute aufforderte, beide im September zu wählen, passte nicht nur wunderbar ins Bild, es war auch nur noch peinlich. Wie der Kanzler seine Gesprächspartner mit seinem Zauber und Charme locker um den Finger zu wickeln versteht, davon wissen Sabine Christiansen und ihre Expertenrunde spätestens seit ihrer letzten Sendung ein Lied zu singen.