Die Pille für das Vergessen

Medikamente gegen Erinnerungen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Angst nimmt zu und immer mehr Menschen leiden an Angststörungen. Umweltkatastrophen wie der Tsunami, Flugzeugabstürze, Krieg oder Terroranschläge lassen die Zahl derer, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, immer mehr wachsen. Bisher wird meistens mit langen Gesprächen oder Konfrontation therapiert, aber das dauert lange und ist nicht bei allen Patienten erfolgreich. Deshalb hoffen Mediziner, dass Medikamente gegen die unerwünschten Erinnerungen eingesetzt werden können. Zwei Präparate, die vergessen lassen sollen, wurden bereits an menschlichen Probanden ausprobiert.

Sich zu fürchten gehört zu den menschlichen Grundgefühlen. Eine Gefahr zu spüren, ermöglicht die Gegenwehr oder Flucht. Die tatsächlichen Bedrohungen, die wir im Alltag erleben, haben sich seit den Zeiten der Jagd auf den Säbelzahntiger sehr gewandelt. Geblieben ist die Spannung, die Alarmbereitschaft, die unser Körper in einem Moment der Angst aufbaut. Die Muskeln werden angespannt, das Herz rast, die Atmung beschleunigt sich, Schweiß bricht aus, die Verdauung setzt aus, alle Sinne sind auf volle Alarmbereitschaft gesetzt.

Traumatische Erfahrungen verfolgen die Betroffenen (Bild: Israel Trauma Center NATAL)

Diese körperlichen Reaktionen sind auch typisch für Angststörungen. Wenn die Angst sich allerdings verselbstständigt, wird sie zu einem chronischen Leiden. Menschen erleben dann jedes Mal panische Angst, wenn sie eine Prüfung absolvieren sollen, einen Platz überqueren, in ein Flugzeug oder eine U-Bahn einsteigen. Phobiker reagieren mit Angst, wenn sie eine Spinne sehen oder auf eine Leiter steigen sollen. Die Folge ist, dass die Betroffenen alles tun, um die Situationen zu vermeiden, in denen die Panik sie überfällt. Die Angst, die von ihrem Wortursprung vom Lateinischen angustia (Enge) herstammt, führt zu einer Verengung des Lebenspielraums, bis zu dem Stadium, dass Patienten das Haus nicht mehr verlassen.

Ein Trauma und die Folgen

Psychologische Erkrankungen, auch Angststörungen, sind auf dem Vormarsch (Die Deutschen fallen in die Depression). Immer mehr Menschen leiden auch unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (posttraumatic stress disorder, kurz PTSD. Sie tritt als Folge traumatischer Erinnerungen auf, z.B. nach Vergewaltigungen und anderen Körperverletzungen, Geiselnahmen, Folter, Terroranschlägen, Krieg, Unfällen oder Katastrophen (National Center for PTSD). Dabei muss der an PTSD Leidende nicht unbedingt selbst direkt von dem Ereignis betroffen gewesen sein, auch ein Miterleben kann die Erkrankung auslösen. Das zeigte sich u.a. in den USA nach den Terrorattacken des 11. September (Traumatisierung durch Medienbilder?). Es kann kurz nach dem Trauma beginnen oder erst Jahre später: Bilder und Erinnerungen drängen sich auf, der Patient erlebt Flashbacks oder hat schreckliche Albträume. Bei manchen stellen sich auch Erinnerungslücken ein. Die Betroffenen sind sehr reizbar, schreckhaft und leiden an Konzentrations- und Schlafstörungen. Sie versuchen krampfhaft Situationen zu vermeiden, in denen die Bilder wieder in ihnen aufsteigen. Es stellt sich zudem emotionale Taubheit ein, die an PTSD Erkrankten ziehen sich zurück, wirken teilnahmslos und verlieren das Interesse an Dingen, die ihnen immer wichtig waren.

In der Behandlung werden Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung erst stabilisiert und dann therapiert, wobei das Trauma bearbeitet wird. Medikamente werden sehr vorsichtig (eine erhöhte Suchtgefahr gehört zu den Symptomen) gegen einzelne Symptome eingesetzt (Therapie der posttraumatischen Belastungsstörung.

Furchtlos durch Pillen

Die klassischen Therapien sind nicht immer erfolgreich, außerdem sehr langwierig und aufwändig. Erinnern und Vergessen sind ständige Prozesse im Gehirn, die immer besser verstanden werden (Das Vergessen und Wie funktioniert unser Gedächtnis?). Auch die Bilder der Vergangenheit in unseren Köpfen ändern sich stetig, Erinnerungen erweisen sich oft als trügerisch.

Wer an PTSD leidet, dem drängen sich immer wieder Bilder ins Hirn, die schmerzhaft und sehr belastend sind. Kein Wunder, dass die Psychiater von einer Pille träumen, die den Patienten die unerwünschten Erinnerungen ersparen. Wie das Wissenschaftsjournal Nature kürzlich berichtete, gilt der Betablocker Propranolol als vielversprechender Kandidat. Betablocker sind gängige Medikamente gegen Herzschwäche.

Versuche mit Ratten hatten gezeigt, dass mit Propranolol behandelte Tiere die Furcht vor einem Ton verloren, auf den zuvor immer ein Elektroschock gefolgt war. Hörten die Nager den Ton, setzte die Angst ein – bekamen sie den Betablocker, legte sich ihre Panik. Der Effekt des Medikaments beruht auf der Blockade von Botenstoffen, die im Hirn für die Ablage von Erinnerungen wesentlich sind.

Eine Gruppe von Psychiatern aus New York hat ähnliche Resultate bei Menschen bereits nachgewiesen und will die entsprechende Studie im September veröffentlichen. Margaret Altemus und ihre Kollegen von der Cornell University suchen händeringend 60 Probanden für eine klinische Versuchsreihe. Die Patienten sollen sofort, wenn PTSD-Symptome wie Herzrasen oder Atemprobleme auftauchen, eine Dosis Propranolol einnehmen. So soll der Teufelskreis zwischen den abrupt auftauchenden Erinnerungen und der Angst durchbrochen werden – das versprechen sich zumindest die Wissenschaftler. Bisher haben sie nur sechs Freiwillige gefunden. Die Idee, eine Pille zu schlucken, um zu vergessen, scheint viele nicht zu überzeugen.

Stresshormon und Angst

Parallel dazu arbeiten Wissenschaftler auch mit anderen Stoffen, die Ähnliches bewirken sollen. Dominique de Quervain von der Universität Zürich setzt auf das körpereigene Stresshormon Cortisol. In der Vergangenheit hatte er bereits die Wirkung des Hormons als Gedächtnisbremse erforscht (Stresshormon blockiert Gedächtnisabruf), jetzt setzt er es gegen traumatische Erinnerungen ein. Die ersten Patienten schluckten täglich eine Dosis und litten zu fast 40 Prozent weniger an unerwünscht und unerwartet auftauchenden belastenden Gedächtnis-Bildern (Low-Dose Cortisol for Symptoms of Posttraumatic Stress Disorder). De Quervain berichtete vor kurzem im deutschen Fernsehen

Das Hauptsymptom, das davon betroffen war, war die Intensität der traumatischen Erinnerungen, unter Cortisol war das weniger. Also diese Flashbacks wurden weniger, auch weniger realistisch empfunden. Und ein Patient hat auch profitiert, indem er weniger Alpträume, traumabezogene Alpträume hatte

Pille fürs Vergessen

Der Zürcher Psychiater plant jetzt eine große internationale Studie zu dem Thema (Das Gedächtnis im Stress).

Betablocker werde heute bereits gegen Prüfungs- und Flugangst verschreiben (Spezifische Phobien). Es stellt sich allerdings die Frage, ob Patienten, die den Betablocker Propranolol nehmen, um ihr Herz zu stabilisieren oder ihren Blutdruck zu senken, sich nicht ernste Gedanken um ihre Gedächtnisleistung machen sollten.

Es gibt aber auch noch andere Bedenken gegen die Idee, posttraumatische Belastungsstörungen nicht systematisch aufzuarbeiten, sondern mit Arzneien schnell wegzutherapieren. In Nature gibt der Psychiater Paul McHugh von der Johns Hopkins University in Baltimore ein praktisches Beispiel für die Fragwürdigkeit des Ansatzes:

Wenn Soldaten etwas getan haben, dass am Ende dazu führte, dass Kinder getötet wurden, wollen Sie ihnen dann Betablocker geben, damit sie es wieder tun können?