Cover your eyes, Nancy!

"Sin City": Wer über 30 ist, sollte sich sehr gut überlegen, ob er sich in diesen Film traut

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Hier wird geprügelt, gehackt, vergewaltigt, kastriert und vor allem gestorben: In "Sin City" herrschen Raubtierkapitalismus und Amoral, Korruption und Serienkill; traurige Detektive und entlassene Strafgefangene treffen auf walkürenafte Dominas und zarte Girliekrieger aus Japan treffen auf Nutten und Mafiosi. Einmal mehr geht es um Rache, daneben natürlich um alle 19 Todsünden, aber auch um reine Liebe, Glück, und Zärtlichkeit. Regisseur Robert Rodriguez malt all das mit katholischer Bilderlust und Opulenz aus und verwandelt die Vorlage Frank Millers in eine überbordende und in jeder Hinsicht exzessive Pulp-Comic-Vision, hinreißende Kinobilder, deren Kraft man sich nicht entziehen kann.

Cover der ersten drei Folgen von Frank Millers Comic

So einen Film hat man noch nicht gesehen! Eine wilde Comic-Phantasie, ungemein innovativ in ihren stilistischen Einfällen, überbordend in ihren Ideen, ihren Figuren, vor allem in dem Geschehen, das hier erzählt wird. Zur gleichen Zeit ein stilistischer Schritt voran für das Weltkino und eine Reminiszenz ans klassische Hollywood. Wenn ein Film den Namen Neo-Noir verdient, dann dieser. Fast durchweg Schwarzweiß, wie die Comics von Frank Miller, die sein Vorbild sind, gelingt "Sin City" eine seltene atmosphärische Dichte.

Auch die Story ist dicht, so dicht, dass sie sich nicht nacherzählen lässt. Hauptschauplatz des durchweg bei Nacht spielenden Films ist "Sin City" eine fiktive Metropole, die mit ihrer Unübersichtlichkeit, ihren Wolkenkratzern, und ihrer sumpfigen Umgebung irgendwie wie eine Kreuzung aus Los Angeles, Chicago und New Orleans und damit wie die konsequent zu Ende gedachte idealtypische US-Großstadt aussieht, aber auch wie eine Variante von Batmans Gotham City. Wie der Name schon unmissverständlich klar macht, herrscht hier die Sünde, genauer gesagt ein Abgrund aus Verbrechen, Korruption, Raubtierkapitalismus und allgemeiner Amoral tut sich auf. Allein einem Dutzend Hauptfiguren begegnet man an diesem Schauplatz. Die Rollen sind durchweg hochkarätig besetzt mit (in alphabetischer Reihenfolge) Rosario Dawson, Josh Hartnett, Rutger Hauer, Jaime King, Michael Madsen, Brittany Murphy, Clive Owen, Mickey Rourke, Benicio del Toro, Eliah Wood.

Leitmotiv Rache

Im Zentrum aber stehen Bruce Willis und Jessica Alba. In der ersten, wichtigsten und besten von drei in sich geschlossenen Episoden, die zugleich die Rahmenhandlung bildet und am Ende wieder aufgenommen wird, spielt Willis einen integren Polizisten, der, als die 11jährige Nancy vom missratenen Sohn eines korrupten Senators entführt wird, an der falschen Stelle Staub aufwirbelt. So verliert er seinen Job und seine Ehre, kommt selbst ins Gefängnis, und acht Jahre später wieder frei, gerade rechtzeitig um die inzwischen 19jährige (Alba) erneut zu retten. Dazwischen sieht man, wie eine Frau von einem jugendlichen Serientäter ermordet wird, erlebt, wie ihr Lover sich überaus brutal an diesem rächt, man sieht ein Rudel punkiger Nutten, deren Waffenstillstand mit Polizei und Mafia durch einen dummen Fehler zerbröselt, als ein Detektiv (Owen) seine neue Freundin, das Barmädchen Shellie (Murphy) vor ihrem durchgeknallten Ex (Del Toro) retten will, und dabei wieder direkt bei seiner wahren Liebe, der schwarzen Dominawalküre Gail (Dawson) landet mit der gemeinsam er mit Hilfe einer japanischen Girliekriegerphantasie (Devon Aoki) das Böse in die Schranken weist.

Menschen werden gefoltert, gehängt, zu Brei geprügelt oder mit dem Samuraischwert zerhackt, sie sterben auf elektrischen Stühlen und woanders, aber sie sterben. Und alle drei Hauptgeschichten handeln, wie schon "Kill Bill" von Quentin Tarantino, der hier einen Gastauftritt als Regisseur erlebt, von Rache - ein Leitmotiv das immer häufiger im Gegenwartsfilm auftaucht, was den Verdacht schürt, dass unsere Zeit offenbar von Rache und dem Rächen besessen ist. Indem er dergleichen erzählt, verwandelt der Film überbordende und in jeder Hinsicht exzessive Pulp-Comic-Visionen in hinreißende Kinobilder, deren Kraft man sich nicht entziehen kann.

Statement gegen Bush-Amerika

Zugleich ist dies alles eine herrlich überzogene Darstellung grotesker Antihelden. In seinem Nihilismus, seinem sicheren Bruch mit dem guten Geschmack, mit "political correctness" und den neuen Tabus der konservativen Restauration in den USA ist "Sin City" auch ein harsches, kompromissloses Statement gegen das Bush-Amerika.

Die Vorlage liefert Frank Millers seit 1991 erschienene Comic-Serie. Bereits Mitte der 80er hatte Miller mit "Batman - The Dark Knight Returns" das Superhelden-Genre höchst originell wieder belebt, und dabei die erzählerischen Möglichkeiten des Comic-Genres revolutioniert. Von Anfang an beeinflusste der gleichermaßen als Erzähler wie als Zeichner hochbegabte Miller damit auch das Kino. Tim Burton, Regisseur der ersten beiden "Batman"-Filme, versichert glaubwürdig, dass ohne Frank Miller seine Filme nicht möglich gewesen wären. Erst in den letzten Jahren wurden mit "Daredevil" und "Elektra" zwei weitere Miller-Figuren zu Film-Helden. "Sin City" ist bereits in Comicform vor allem durch seinen ungewöhnlichen Schwarzweiss-Stil geprägt. Ohne Grautöne oder Schraffuren sieht alles manchmal aus wie ein Scherenschnitt, zugleich wie ein im Fieberwahn gezeichneter Film-Noir: Millers Helden sind Detektive, Mörder, korrupte Bullen und Prostituierte, seine Moral alttestamentarisch: Auge um Auge, sein Lebensgefühl bitter, existentialistisch und melancholisch. Die Welt ist bei Miller definitiv ein finsterer Ort.

Kein Besserer als Robert Rodriguez, der Regisseur von u. a. dem elegischen "Desperado", dem hysterisch-ironischen "From Dusk Till Dawn", dem prächtigen "Once upon a Time in Mexico", aber auch den wundervollen "Spy Kids", könnte das verfilmen. Denn er hat schon immer comichaft erzählt. Trotzdem dauerte es, bis Miller bereit war, die Vorlage freizugeben. Rodriguez überredete ihn erst mit einer kleinen Szene, die er auf eigene Kosten filmte und die nun als Eröffnungssequenz dient. Der Regisseur entwickelte eigens eine spezielle Technik, um dem einmaligen Stil der Vorlage gerecht zu werden. Denn im Comic sind Lichteffekte und Kontraste, auch Sichtbarkeiten möglich, die mit der Kamera ohne Tricks nicht gelingen können. Daher agierten die Darsteller vor einem "Green Screen" im Studio, gefilmt wurde mit HD-Videokameras, danach wurden die Aufnahmen nachbearbeitet und koloriert. Denn auch Schwarzweiß - darin liegt der Hauptunterschied zu Millers Vorlage, ist bei Rodriguez eine Farbe. Daher begegnet man einer nächtlichen Schattenwelt in gleißendem Schwarzweiß und doch voller sanfter Grautöne, mitunter erhitzt durch saftiges Rot und bissiges Gelb. So ist dies alles mehr künstlerisches Experiment als Blockbuster. Konzept-Kino und ein Autorenfilm par excellence - denn wenige Regisseure haben wie Rodriguez/Miller vollkommene Kontrolle über ihr Kunstwerk.

Comichaft zu erzählen, bedeutet, mittels einer Reihung von Einzelbildern zu erzählen, die so genau komponiert sind, dass jedes für sich über sich hinausweist. Rodriguez und Miller gelingt genau dies. Sie verwandeln die Zeichnungen in etwas, das ein Film ist, ohne eine "Ver-"Filmung zu werden - die dann ja notwendig animiert sein müsste. Vom "digitalen Zwischenfilmreich" hat ein Kritiker gesprochen, und diese magische Formulierung trifft die Magie des Leinwandgeschehens ganz gut. Erstmals erlebt man so etwas wie eine graphic novel als Film - ein Meilenstein; ungesehene Bilder. Voller Eigenleben, komponiert mit viel Gefühl für Rhythmus, für dramaturgische Höhepunkte. So ist dies ein ganz autonomer Film geworden, ein Kunstwerk aus eigenem Recht. Und zugleich war eine Comic-Adaption noch nie so werkgetreu und liebevoll wie diese. "Sin City" ist eine der besten Comic-Verfilmungen des Kinos. Paradoxerweise hat sich Rodriguez gerade indem er den Geist der Vorlage aufnimmt, ihm treu bleibt, von dieser emanzipiert.

Frauen, die oft blond sind, und manchmal tot

"Sin City" ist ein Film, der unter den Kritikern endlich einmal wieder fein säuberlich die Spreu vom Weizen trennt. Dabei geht es nicht ums Gut-finden, sondern um die Bereitschaft, nein, die Fähigkeit, sich auf das einzulassen, was Rodriguez/Miller hier tun. Obwohl: Man hätte es auch ungefähr vorausahnen können: Der "Spiegel" sieht nur "Sado-Phantasien" und kann seinen Neid kaum verbergen. Auf BR-online wird gefragt: "Aber wo ist der Inhalt?" Und wir glauben sogar, dass ihn die Kollegin trotz langer Suche wirklich nicht gefunden hat. Aber ist dies das Problem des Films? "Der Look ist alles", schreibt wiederum ein anderer, und das klingt so, als ob das etwas Böses wäre, als ob Look als solches böse wäre. Und es klingt, als ob es überhaupt Filme ohne Look gäbe, als ob man zwischen Substanz und Look überhaupt sinnvoll unterscheiden könnte. Kann man nicht, und kann man weniger denn je in einem Film, in dem die Substanz mit dem Look zusammenfällt. Es klingt, als ob "formvollendet" für den Autor per se mit "sinnlos" gleichgesetzt werden muss, ob die guten Filme die wären, in denen es gar nicht um die Bilder geht, in denen diese wieder die gute alte Vehikelfunktion bekommen, das Mittel sein sollen, um eine Geschichte zu erzählen, nicht Teil dieser Geschichte selbst. Das ist die protestantische Sicht aufs Kino, die Sicht, die fein zwischen reinen und unreinen Bildern zu unterscheiden weiß, die den Bildern kein Leben und damit nicht die Möglichkeit zur Verunreinigung zugesteht. In zwei bemerkenswert ähnlichen Rezensionen zweier Stadtzeitungen argumentieren ein US-amerikanischer und ein deutscher Kritiker gegen den Film mit diesem bilderstürmerischen Argument des "Look", bemerken, der Film habe die Qualität eines "lebenden Comic-Buchs" und behaupten, es fehle aber an "menschlichem Interesse", sei "kalt", eben bloßer "Look".

Kein "menschliches Interesse"? Davon abgesehen, dass Liebe und Gewalt doch menschliche Themen sind, dass man sich auch für Archetypen interessieren kann, und dass menschliches Interesse nicht identisch ist mit dem Interesse für psychologische Befindlichkeiten - davon abgesehen ist "Sin City" ja auch ein Film über Männer und ihre Rollen. Männlichkeit wird in Sin City" traurig und kompliziert. Männer wirken wir Ritter, die noch einmal ihre schon rostige Rüstung anlegen müssen, die nur widerwillig noch die alten Tugenden, die abgewirtschaftete Ehre und den überholten Ehrgeiz leben. "This is the old days" heißt es einmal, "the all or nothin' days. They're back.") Ist das Amoral? Vielleicht. Vielleicht ist manchem Kritiker aber auch nur einfach unwohl bei dieser Dekonstruktion von Männlichkeit, bei der Entfaltung ihrer Krise. Denn der menschliche Rest ist natürlich die Energie, mit der hier Männer sich zugrunde richten, für Frauen, die oft blond sind, und manchmal tot.

Weder mit dem alten Heroismus, aber schon gar nicht mit der neuen Softiness geht es hier gut aus. Kein Film für braves akademisches Pennälertum. Und auch nicht wirklich ein Film für die Nerds. Ein typischer Topos der "Sin City"-Kritik ist auch der Verweis auf den Anteil von Quentin Tarantino. Schon in "From Dusk till Dawn" wurde alles, was gut gefunden wurde auf Tarantinos Anteil zurückgeführt, alles Schlechte auf Rodriguez. Hier nun loben diverse Kritiken völlig unberechtigterweise die Sequenz, in der Tarantino den "Special Guest Director" gibt.

Nahaufnahmen des Schreckens

Die besten Passagen von "Sin City" sind jene, in denen Rodriguez der Filmgeschichte am nächsten ist: Wenn er Millers Vorlage durch die Brille seiner Vorbilder, durch den klassischen Film Noir betrachtet. Aber Rodriguez tut mehr. Er erinnert daran, dass dieser Film Noir selbst eine Inspirationsquelle hatte: Den deutschen Expressionismus der ersten Nachkriegszeit, in Literatur und Malerei, in den Cartoons des Zeichners Will Eisner, vor allem aber die Leinwand-Welten von Caligari und Nosferatu, der Femmes Fatales von Papst und ihrer neusachlichen Transformation in die Großstadtsymponien von Ruttmann, Lang und Siodmak. Rodriguez hat von diesen Vorbildern die Kunst zu Stilisieren gelernt, die Kunst der Abstraktion und den grotesken Humor. Sein Film ist eine Hommage an die dunklen Schattenwelten und Seelenlandschaften des Expressionismus, schwarze Depressionsphantasien, Nahaufnahmen des Schreckens.

Indem er unseren Blick lenkt und mit ungesehenen Bildern und Perspektiven füttert, ist "Sin City", was jeder gute Film sein muss: En Film über das Sehen selbst. Eine Selbstreflexion der Popkultur, ihrer Brutalität und Exaltiertheit, ihrer Grelle und ihrer Leidenschaften. Wer nach der Gewalt fragt, und sich über "ultrabrutale" Szenen entrüstet, muss sich fragen, warum ihn das hier stört, aber nicht bei den nicht weniger brutalen, nur konsumierbarer gemachten Hollywood-Mainstream? Und er muss sich Georg Seeßlens Frage anlässlich Riefenstahls 100tem Geburtstag noch einmal stellen: Wie viel Faschismus steckt in unserer Popkultur? "Cover your eyes, Nancy! I don't want you to see this." schreit Willis ganz zu Beginn des Films ein kleines Mädchen an. Das Hinsehen hat seinen Preis. Das Wegsehen aber auch.

Wer über 30 ist, sollte sich sehr gut überlegen, ob er sich in diesen Film traut. "Sin City" ist so schnell und wild geschnitten, dass man im Kino-Sessel hin- und hergewirbelt wird, überaus stilisiert und überaus abstrakt. Ein Kino der Bilder, der reinen Form. Exaltiert und überdeutlich. Zugleich äußerst brutal. Man sollte nicht darum herum reden: Wer "Sin City" besucht, wird Augenzeuge aller sieben Todsünden und weiterer 12, die er zuvor nicht kannte. Man erlebt Vergewaltigung, Kastration, Kannibalismus, Enthauptung, Tod durch elektrischen Stuhl, durch Hängen, abgehackte Glieder, Pädophilie, Folter in allen möglichen Formen. Man sieht aber auch reine Liebe, Glück, Treue, Freundschaft, Zärtlichkeit, Mitleid und Aufopferung für andere. Eine Achterbahn der Gefühle, deren tieferer Sinn wie der eines der düstereren Shakespeare-Dramen - auch nichts für zarte Gemüter - darin liegt, das Panorama des Menschlichen in allen Facetten auszuleuchten. In der aufregenden, einzigartigen Formsprache, in der das hier geschieht, und in seiner Konsequenz ist "Sin City" ein Dokument der Aggression und der Verzweiflung, die unsere Gegenwart grundiert. Mit anderen Worten: Ein Meisterwerk!