Joseph Ratzinger und die „neoliberale“ Weltordnung

Wird der deutsche Papst die römische Kirche politisch zähmen?

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Abschied von einer rigorosen Sexualmoral, mehr innerkirchliche Demokratie, Freiheit für die theologische Diskussion – solche Reformen hatte wohl kaum jemand als Ergebnis der letzten Papstwahl erwartet. Im Kollegium der Kardinale gibt es jedoch engagierte Globalisierungskritiker, die als Fürsprecher der armen Erdregionen die Dogmen der neoliberalen Wirtschaftsdoktrin in Frage stellen. Viele sozial orientierte Katholiken hofften, ein solcher Kandidat möge neuer Pontifex werden. Die dann folgende Wahl des Deutschen Joseph Ratzinger erscheint hingegen als ideales Instrument, die politisch unbequemen Ansätze im Weltkatholizismus zu zähmen. Jüngst überschrieb die Christenzeitung Publik-Forum entsprechende Befürchtungen mit dem provokativen Stichwort „Benedikt-Bush-Tandem“.

Die hunderttägige Schonzeit für den Neugewählten, mit der kritische Katholiken sich erst einmal einen Wartestand verordnet hatten, ist abgelaufen. Dass Ratzinger sich auch im Gespräch mit Abweichlern durch persönliche Liebenswürdigkeit auszeichnet und sein Amt wie ein „väterlicher Hirte“ ausfüllen möchte, kann nicht endlos wiederholt werden. Wird er den Worten und Taten aus seiner Zeit als einflussreichster Kurienkardinal treu bleiben? Dann könnte sich dem strengen innerkirchlichen Kurs des letzten Vierteljahrhunderts nun auch eine konservative Tendenz in weltpolitischer Hinsicht beigesellen.

Fundamentalismus, vorgetragen mit intellektueller Brillanz

Ratzingers Hauptthema ist der neuzeitliche Religionsverlust. Er befürchtet, grundlegende gesellschaftliche Werte und die unbedingte Würde jedes Menschen würden unter den Bedingungen der Postmoderne zu bloßen Phrasen: Die Ethik müsse nunmehr konstruiert werden; der Konsens darüber sei also beliebig veränderbar.

Über solche Fragen hat er mit angesehenen Intellektuellen, darunter dem Philosophen Jürgen Habermas, viel beachtete Gespräche geführt. Die kirchlichen Parteigänger Ratzingers kritisieren an der neuen Europa-Architektur vor allem das Säkulare, das urkundliche Schweigen zu einem Gottesbezug. Die im europäischen „Verfassungsentwurf“ vorgesehene Pflicht zur militärischen Aufrüstung, das Fehlen einer eigenständigen Einrichtung für zivile Konfliktlösung oder die Festschreibung eines Grundrechts auf Eigentum ohne soziale Bindungen bleiben unerwähnt.

Nun beschreiben die meisten Feuilletonisten Ratzinger nicht nur als wortgewandten Kulturkritiker. Fast unisono ist auch die Rede davon, er sei ein „hochkarätiger Theologe“. Unterschlagen wird zumeist, dass der ehemalige Theologieprofessor seit seiner Begegnung mit linken Studenten eine Abneigung gegen alles „Liberale“ oder „Linke“ entwickelt hat und dass seine immer wieder gerühmte Brillanz im Dienst eines groß angelegten Rückwärtsprogramms steht.1

Von Karl Rahner bis hin zu Hans Küng, Johann Baptist Metz und Eugen Drewermann haben Theologen hierzulande auf sehr unterschiedliche Weise versucht, die Botschaft des Christentums von unten her zu vermitteln. Subjektive Evidenz ist wichtiger als Autoritätsgehorsam. Moderne Anthropologie, psychologische Erkenntnisse und politische Dimensionen spielen eine große Rolle.

Ratzinger aber ist einem platonischen Paradigma verhaftet, das den staatskirchlichen Konzilien ab dem 4. Jahrhundert zugrunde liegt. Seine Theologie verkündet ewige Wahrheiten von oben herab: Die universale Bedeutung Jesu erschließt sich z.B. nicht aus Verständigungen über die biblisch bezeugte Menschlichkeit. Ausgangspunkt ist für ihn vielmehr der zeitlose Wahrheitsanspruch des altkirchlichen Dogmas, das den ersten Christen noch gänzlich unbekannt war. Die sogenannte Jungfrauengeburt ist als biologisches Faktum ernst zu nehmen. Wer sie im Gefolge der Mystiker „nur“ seelisch versteht oder gar religionsgeschichtlich interpretiert, verwirkt nach Ratzingers Ansicht das Recht, als katholischer Theologe zu lehren.

Während der Zeit als Chef der Glaubenskongregation bestand seine vorzügliche Kommunikationsform aus Verboten und Verurteilungen. Nun aber, so heißt es, will er Brückenbauer sein.

„Homo-Ehe“ und antilibertäre Ideale

Bislang zeigen sich die christlichen Kirchen angesichts der hohen Scheidungsraten in den USA und Europa recht ratlos, wenn es um die Suche nach zeitgemäßen „verbindlichen Lebensformen“ geht. Die Antwort besteht zumeist aus Beschwörungen zur „Krise des christlichen Ehe- und Familienbildes“. Ein Sündenbock ist schon lange ausgemacht: Die Berücksichtung von Homosexuellen im europäischen Menschenrechtsstandard und die als „Homo-Ehe“ bezeichnete Verankerung schwul-lesbischer Bürgerrechte läuten einen Untergang des Abendlandes ein.

Bedroht sieht man auch die Volksgesundheit. Wörtlich ist katholischerseits die Rede von einer Schädlichkeit „für die gesunde Entwicklung der menschlichen Gesellschaft“, einer Gefahr für das „Gewebe der öffentlichen Moral“, einem Austritt aus der „gesamten moralischen Geschichte der Menschheit“ und einer „Auflösung des Menschenbildes“. Die entsprechenden Voten seit 1986 kommen fast ausnahmslos von Joseph Ratzinger.2 Die „psychologischen Ursachen“ der Homosexualität seien ungeklärt, doch müsse man diese objektiv als „ungeordnet“ betrachten.

Nicht jede Diskriminierung von „homosexuellen Personen“ gilt als ungerecht. Bemüht werden im Weltkatechismus – ungeachtet der modernen Bibelwissenschaft – ganz sachfremde Bibelstellen. Natürlich gibt es Sorge um weitere öffentliche Diskussionen über Skandale im Umkreis von Homosexualität in der reinen Männerkirche. Vorerst jedoch findet die aggressive Antihomosexualität in konservativen Kreisen noch Anhänger. Fast immer fördert sie auf dem Weg skurriler politischer Einflussnahmen eine kirchliche Entpolitisierung. (Auch im Bush-Wahlkampf 2004 rangierte das Reizthema „Homo-Ehe“ weit vor der Gesundheitssorge oder Ernährungsproblemen von Armen in den Vereinigten Staaten.)

Ratzingers Ausführungen zum Freiheitsbegriff lassen die Verkürzung bürgerlicher Freiheitsrechte durch rein ökonomische Freiheitsparolen merkwürdig unbeachtet. Es entsteht zudem der Verdacht, er sei ganz prinzipiell ein Anhänger antilibertärer Ideale. Die Französische Revolution erscheint bei ihm z.B. vor allem als dunkler Fleck der europäischen Geschichte. Die neuen Theologien von Frauen und eine Gleichberechtigung der Geschlechter sind ihm völlig fremd. Als Präfekt der Glaubenskongregation meinte Ratzinger gar, der Ausschluss der Frauen vom Priesteramt gehöre zu jenen Glaubenslehren, die endgültig und nicht rückgängig zu machen seien.

Katholische Kapitalismuskritik im christlich-sozialen Miniaturformat?

Nun sind derlei „katholische“ Ansichten keineswegs neu und auf dem pluralistischen Weltanschauungsmarkt heute Minderheitsvoten. Sie passen nicht zum modernen Lebensstil des „Neoliberalismus“, bleiben aber in gesellschaftlicher Hinsicht bedeutungslos. Das kann für die überkommene Soziallehre der katholischen Weltkirche nicht gesagt werden.

Papst Paul VI. verurteilte 1967 in seinem Rundschreiben über den Fortschritt der Völker einen ungehemmten Kapitalismus, nach dem „der Profit der eigentliche Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, der Wettbewerb das oberste Gesetz der Wirtschaft, das Eigentum an den Produktionsmitteln ein absolutes Recht, ohne Schranken, ohne entsprechende Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft“ darstelle („Populorum Progressio“).

Auch Papst Johannes Paul II. befürchtete am 1. Mai 1991 - nach Wegfall des kommunistischen Systemkonkurrenten, der wahlweise ihm oder dem US-Präsidenten Reagan als Verdienst zugeschrieben wird: „Es besteht die Gefahr, dass sich eine radikale kapitalistische Ideologie breit macht, die es ablehnt“, eine Problemlösung angesichts des Elends in der Welt auch nur zu erwägen, da sie diese „in einem blinden Glauben der freien Entfaltung der Marktkräfte überlässt“ (Rundschreiben „Centesimus Annus“).

Joseph Ratzinger gesteht nun in seinen Arbeiten historische Berührungspunkte zwischen katholischer Soziallehre und Sozialdemokratie ein. Bislang gibt es jedoch kein Anzeichen dafür, dass er die weltkirchliche Kritik an der liberalistischen Wirtschaftsideologie besonders wichtig nimmt. Anders als seine Vorgänger meidet er, wie etwa der Sammelband „Werte in Zeiten des Umbruchs“ (2005) zeigt, konsequent das Wort „Kapitalismus“.

Die antikommunistische Linie des Katholizismus ist hingegen im genannten Buchtitel so lebendig, als sei noch immer mit stalinistischen Bedrohungen zu rechnen. Seit Anfang der 80er Jahren hatte Ratzingers Kurienbehörde die lateinamerikanische Befreiungstheologie Schritt für Schritt liquidiert, was der US-Administration von Ronald Reagan sehr gefiel. Unterstellt wurde den Theologen der Armen, sie vollzögen eine Abkehr vom Evangelium und eine Hinwendung zu marxistisch-atheistischen Vorstellungen.

Gefolgsleute der südamerikanischen Militärdiktaturen und faschistische Todesschwadronen sahen darin einen Freibrief für Morde an Nonnen, Priestern, Bischöfen und Katecheten. Selbst Rom, so hieß es zuweilen, betrachte die Aufmüpfigen ja als Kommunisten. Erstaunlicher Weise hat bis heute kein Tribunal zur Frage stattgefunden, in wieweit die Glaubenskongregation unter Ratzinger Morde an Christen im katholischen „Vorhof“ der Vereinigten Staaten mit ihren Dokumenten begünstigt hat. Historisch wäre auch zu untersuchen, ob sich der Vatikan - z.B. im Fall des salvadorianischen Erzbischofs Oscar Romero - durch unterlassene Hilfeleistungen schuldig gemacht hat.

Die Weltökumene für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung erscheint bei Ratzinger als „politischer Moralismus“

In der christlichen Ökumene steht seit zwei Jahrzehnten ein globaler Gesprächsprozess der Weltkirchen für „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ ganz oben auf der Tagesordnung. Die wesentlichen Ausgangspunkte: Gegenwärtig zeige sich die Zivilisation unfähig, die ökologischen Überlebensfragen der Menschheit auch nur im Ansatz wirklich anzugehen. Im Verbund mit der Heiligsprechung eines aggressiven Weltwirtschaftssystems wird zudem befürchtet, der Krieg könne im dritten Jahrtausend wieder als maßgebliches Programm der Weltordnung rehabilitiert werden. Namentlich die der Reformation verbundenen Weltkirchenbünde betrachten gegenwärtig den „Neoliberalismus“ als „Angriff auf das Leben“ und formulieren die Alternative „Gott oder Mammon“.

Bezeichnend ist nun, wie Ratzinger unlängst diese breite Bewegung der Ökumene bewertet hat:

Es gibt heute einen neuen Moralismus, dessen Schlüsselwörter Gerechtigkeit, Friede und Bewahrung der Schöpfung sind. Das sind Begriffe, die wesentliche moralische Werte, die wir alle notwendig haben, zum Ausdruck bringen. Aber dieser Moralismus bleibt vage und schlittert damit fast unausweichlich in die Sphäre der Politik und der Parteien.

Rede am Vorabend des Todes von Johannes Paul II. anlässlich der Verleihung des „Preises des Heiligen Benedikt für die Förderung des Lebens und der Familie in Europa“

Ratzinger möchte stattdessen das Christentum auf eine „persönliche Verpflichtung unseres täglichen Lebens“ und eine Bewahrung abendländischer Werte konzentrieren. Anderen christlichen Ansätzen, denen es global um einen zivilisatorischen Ernst geht, unterstellt er „politischen Moralismus“ und eine Nähe zu Utopien, die in Anarchismus münden könnten. Die Berührungspunkte solcher Polemiken zu Glaubensbekenntnissen von Margret Thatcher, Ronald Reagan und rechten Evangelikalen sind schwer zu überhören.

Christliche Leitkultur versus Freundschaft der Religionen?

Papst Johannes Paul II. hatte nicht erst nach dem 11. September 2001 die freundschaftliche Verbundenheit aller Weltreligionen zu einem besonderen Anliegen seines Pontifikats gemacht. Eine engere Familien-Ökumene der drei auf Abraham zurückgehenden Religionen (Judentum, Christentum und Islam) lag ihm förmlich am Herzen.

Bezogen auf den Islam gibt es - bislang - keinen Hinweis, dass Joseph Ratzinger diese Hochschätzung in vergleichbarer Weise teilt. In seinen Schriften erscheint der weltweite Dialog der Religionen insgesamt eher als unvermeidliches Erfordernis einer globalen Kommunikationsgesellschaft. Den offenen Ansätzen katholischer Theologen zu einem gleichberechtigten interreligiösen Gespräch hielt er in der Vergangenheit – unterstützt durch Repressionsmaßnahmen – stets einen exklusiven Wahrheitsanspruch der katholischen Kirche entgegen.

Im Ratzinger-Dokument „Dominus Jesus“ (2000) wird nicht einmal den evangelischen Kirchen zugebilligt, christliche Kirche im Vollsinn des Wortes zu sein.3 Eine wichtige Anfrage an Ratzingers Pontifikat lautet: Wird es den neokonservativen Programmen einer globalen „christlichen Leitbildkultur“ und dem antiislamischen Kulturkampf, der wichtigsten Rechtsfertigungsfigur für den neuen Militarismus des Westens, zuarbeiten?

Pazifisten-Schelte und Offenheit für „gerechte Kriege“?

Drei Jahrhunderte lang war den Getauften jeglicher Militärdienst mit Tötungsaufgaben strikt verboten. Nach Etablierung der Staatskirche dominierte hernach in der Christenheit über siebzehnhundert Jahre die Lehre vom sogenannten „gerechten Krieg“. Im Zweiten Weltkrieg erkannte selbst der ultrakonservative Kurienkardinal Alfredo Ottaviani, dass dergleichen im Zeitalter moderner Massenvernichtungstechniken keine sinnvolle Doktrin mehr sein kann.

Heute ersetzt z.B. die deutsche Bischofskonferenz die veraltete Anschauung durch eine Lehre vom „gerechten Frieden“ (2000). In der Ökumene wird gefordert, vor der Etablierung „humanitärer Interventionen“ endlich ein klares internationales Polizeirecht der UNO vorzulegen und in den reichen Ländern die Höhe rein ziviler Hilfsbudgets den Militärhaushalten zumindest gleichzustellen. Gegen die schleichende Wiedereinführung „gerechter Kriege“ unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung hat besonders Papst Johannes Paul II. Einspruch erhoben.

Wie geschärft ist ein entsprechendes Problembewusstsein bei Joseph Ratzinger? Aus Anlass des 60. Jahrestages der alliierten Landung in der Normandie konstatierte er am 5. Juni 2004: „Wenn irgendwo in der Geschichte, so ist hier offenkundig, dass es sich bei dem Einsatz der Alliierten um einen gerechten Krieg handelte.“ Im Anschluss daran warf der Kardinal die Frage auf, „ob und unter welchen Bedingungen auch heute so etwas wie ein gerechter Krieg, das heißt ein dem Frieden dienender und unter moralischen Maßstäben stehender militärischer Eingriff gegenüber bestehenden Unrechtssystemen, möglich ist.“

Die Frage ist, wie hilfreich solche Formulierungen sechs Jahrzehnte nach Gründung der Vereinten Nationen und nach Grundlegung einer neuen internationalen Rechtsgeschichte sind? Soll die im Zeitalter der Massenvernichtung verabschiedete Rede vom „gerechten Krieg“ nun doch wieder ins Kirchenvokabular eingeführt werden und Konzessionen an die aktuelle Weltpolitik ermöglichen? Wie sind daneben die wiederholten Unterstellungen des Glaubenspräfekten gegenüber Pazifisten zu bewerten? Mehr als einmal konstruierte Ratzinger ein Feindbild von „absoluten Pazifisten“, die „keine Werte kennen“ und der Anarchie Vorschub leisten würden.4 Er scheint hier, offenbar in Erinnerung an die für ihn traumatische Studentenrevolte, eine gefährliche pazifistische Massenbewegung zu befürchten. Vergleichbar drastische Voten gegen Bellizisten sind bislang nicht bekannt.

Als sicher kann gelten, dass Ratzinger seinen Papstnamen unter Rückgriff auf den hl. Benedikt, den „Vater des Abendlandes“ und der Mönche Europas, gewählt hat. Ob, wie vielfach geschrieben worden ist, auch ein Bezug auf den pazifistischen Papst Benedikt XV. zur Zeit des Ersten Weltkrieges beabsichtigt ist, muss sich erst noch erweisen. Ein Berührungspunkt wäre Ratzingers Forderung nach einem „wirklichen Recht der Völker ohne hegemonische Übergewichte“.

Sympathie für das US-amerikanische Modell

Die als Antiterrorkampf deklarierte Planung neuer US-Kriege hat der verstorbene Papst Johannes Paul II. als „Gefahr für das Schicksal der Menschheit“ charakterisiert. Beim Kurienkardinal Ratzinger sind in den letzten Jahren andere Akzente auszumachen.

Am 4. November 2004 brachte Radio Vaticana seine Äußerungen gegenüber der römischen Tageszeitung „La Repubblica“ so auf den Punkt: Kardinal Ratzinger beklagte „einen antichristlichen Werteverfall in Europa und empfahl dagegen das amerikanische Gesellschaftsmodell“. Der Moralkonservatismus der Bush-Administration und die öffentliche Berufung von US-Politikern auf religiöse Vorstellungen finden seinen Beifall. Die Bedrohung heißt „Relativismus“. Von Gefahren einer fundamentalistisch agierenden „christlichen“ Politik ist hingegen nicht die Rede. Dass rechte Evangelikale in katholischen Teilen des amerikanischen Kontinents systematisch missionieren, wird bei Ratzinger ganz arglos gedeutet. Man traue auf Seiten der US-Protestanten dem Katholizismus nicht zu, einen stabilen „moralischen Konsens“ der Gesellschaft zu gewährleisten.

Für eine Annäherung zwischen Rom und Washington könnte Ratzinger der ideale Papst sein. Zu seinem Nachfolger als oberste Glaubenshüter in Rom bestimmte er den US-amerikanischen Bischof William Joseph Levada, dessen strenge Traditionstreue außer Frage steht. Im Gegenzug hat US-Präsident Bush jüngst den konservativen Katholiken John Glover Roberts zum US-Bundesrichter ernannt.

Historische Verantwortung als Deutscher

Immerhin scheint Joseph Ratzinger angesichts seiner deutschen Herkunft in historischen Fragen eine besondere Verantwortung zu verspüren. Gegenüber einem ZDF-Journalisten, so berichtet Thomas Seiterich-Kreuzkamp in Publik-Forum 14/2005, hat er schriftlich zugegeben, der umstrittene Papst Pius XII. habe im internen Kreis des Kardinalskollegiums „die Juden“ zeitgleich zum Holocaust als „Gottesmörder“ bezeichnet.

Die Befürchtung, Pius XII. könne sehr bald schon in den Kreis der heiliggesprochenen Vorbilder Aufnahme finden, scheint damit hinfällig zu werden. Abzuwarten bleibt, ob das deutsche Kirchenoberhaupt die für Oktober angekündigte Seligsprechung des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen persönlich vornehmen wird. Bischof Galen hatte gegen die „Euthanasie“-Morde der Nazis unerschrocken Einspruch eingelegt, jedoch den Hitler-Krieg als extrem nationaler Militarist - wie die Mehrheit der deutschen Bischöfe - gutgeheißen.5

Die Papstwahl dieses Jahres, so meinen einige von ihrem Ausgang enttäuschte Christen, habe hinter den Kulissen eher einem weltlichen Wahlkampf als einer Aula für Entscheidungshilfen des Heiligen Geistes geähnelt. Selbst die größte deutsche Boulevardzeitung wusste ja schon im Vorfeld, wer es wird. Ob die Bedenken zum Wahlergebnis zutreffen oder nicht, kann allein der Papst beantworten. Auf seine Botschaften zum Weltjugendtag in Köln darf man gespannt sein.

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